Zehn Jahre nach dem öffentlichen Bekanntwerden des sog. „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) sind viele Fragen offen, viele Wunden ohne Aussicht auf Heilung. Die Haupttäter:innen kamen aus Jena, und es ist an der Zeit, die stadtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem rechten Terror, mit Rassismus, mit Diskriminierung und mit der Bedrohung Andersdenkender zu intensivieren. Es ist an der Zeit, die Opfer und Betroffenen sichtbarer werden zu lassen.
Jena unternimmt den Versuch, im Rahmen einer mehrmonatigen Veranstaltungsreihe dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten und sich den aktuellen Problemlagen zu stellen. Eng vernetzt sind diese Bemühungen mit einem bundesweiten Theaterfestival vom 21. Oktober bis 7. November 2021 mit dem programmatischen Titel „Kein Schlussstrich!„, dessen Initiator und Leadpartner Jena ist. In Kassel wurden Halit Yozgat und Walter Lübke von Rechten ermordet. Aus Kassel stammt auch Lutz Engelhardt, der künstlerische Leiter der Jenaer Kulturarena. Er ist neben seinem Faible für Musik, Kunst und Kultur ein sehr politisch engagierter Mensch, und so sprachen wir mit ihm über die vielen offenen Fragen, die auch ihn immer wieder umtreiben.
Lutz Engelhardt ist seit Gründung des Festivals künstlerischer Leiter der Kulturarena, betreibt in Kassel eine Tourneeagentur, leitete von 1988 bis 2018 das Festival "Kulturzelt Kassel" und veranstaltet Tourneen mit Künstlern wie John McLaughlin, Roberto Fonseca oder Fatoumata Diawara.
Herr Engelhardt, in Jena kennt man Sie als künstlerischen Leiter der Kulturarena. Bis zum Jahre 2018 haben Sie auch das Kulturzelt in Kassel betrieben, das als Vorbild für die Kulturarena diente. Daraus entstand eine langjährige und fruchtbare Kooperation. Im Rahmen der Aufarbeitung des NSU-Komplexes gibt es nun eine weitere Verbindung zu Jena und auch hier engagieren Sie sich mit Herzblut. Wie kam es dazu?
Ja, nach der Ermordung von Halit Yozgat und des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke haben sich eine Handvoll Kasseler Bürger, darunter auch ich, entschlossen, eine Petition ins Leben zu rufen, die zum Ziel hat, die skandalöse Verschließung der sogenannten NSU-Akten durch die hessische Landesregierung zu bekämpfen. Bis zum Einstellen der Petition haben 134.626 Menschen unterschrieben, die die Öffnung der Akten fordern. Das war die zahlenreichste Petition, die jemals im Hessischen Landtag eingereicht wurde. Auch wenn die Petition aktuell ruht: die Forderung an die Regierungsparteien CDU und Bündnis 90/ Die Grünen besteht weiter.
Wie kam es zu dieser Petition?
Wir kannten Walter Lübke alle persönlich. Die einen mehr, die anderen weniger. Bei mir war es so, dass er es uns ermöglichte, unsere alljährliche Eröffnungsparty für das Kulturzelt in den Räumen des Regierungspräsidiums zu feiern. Er war Gastgeber und ein extrem offener und herzlicher Mensch. Für uns alle war es ein großer Schock, als wir von seiner Ermordung erfuhren. Das war der zweite Mord von Rechtsextremisten in Kassel und wir wollten nicht weiter hinnehmen, dass die Hessische Landesregierung Akten unter Verschluss hält, die diese Morde hätten verhindern können. Dass ein sog. Verfassungsschützer wie Andreas Temme gedeckt wird, der beim Mord an Halit Yozgat vor Ort war, und der erwiesenermaßen gelogen hat, als er behauptete, nichts von Halits Mord mitbekommen zu haben, immer noch als Landesbediensteter beschäftigt ist, das ist ein unfassbarer Skandal.
Die Stadt Jena hat mit „Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex“ eine stadtpolitische Auseinandersetzung angestoßen, die auch in Kassel aufgenommen wird.
Ich bin sehr dankbar dafür und glaube, dass dies ein überfälliger Schritt ist. Nicht nur für Jena, sondern für alle betroffenen Kommunen und letztendlich für das ganze Land. Ich würde mir wünschen, dass die Diskussion auch in Kassel so energisch geführt würde wie in Jena. Die Initiative von JenaKultur, in allen Städten, in denen der NSU Mitbürger tötete, Kooperationen anzustoßen, macht mich stolz.
So sollten Kultureinrichtungen der Kommunen arbeiten: Indem sie nicht wie in Kassel als reine Verwaltungsbehörde agieren, sondern indem sie Prozesse anstoßen, begleiten und Projekte ermöglichen, die private Initiativen gar nicht leisten können. Kulturpolitik der Kommunen kann nicht einfach nur darin bestehen, zuzuschauen und Geld bereitzustellen, sie muss auch gestalten und Prozesse vorantreiben.
Herzlichen Dank für diese Einblicke und Sichtweisen!
In über 60 veranstaltungen setzt sich JenaKultur in diesem Jahr gemeinsam mit der Stadt Jena, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Institut für Zivilgesellschaft und Demokratie und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteuren mit dem NSU-Komplex auseinander. Kennen Sie das Projekt „Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex“ schon?
Was sind Ihre Gedanken zu diesem Thema? Lassen Sie es uns gern wissen in den Kommentaren.