Einweihung am Freitag, 25. August 2023, 14:30 Uhr, Am Rähmen 3
Es gibt tragische Lebensgeschichten, die noch nach Jahren und Jahrzehnten die Gemüter erhitzen und in besonderer Weise bewegen. Eine davon ist die von Matthias „Matz“ Domaschk. Am 12. April 1981 stirbt der 23-Jährige in der Geraer Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Der Darstellung des MfS und aktuellen Forschungsergebnissen entsprechend handelt es sich um einen Suizid.
Sechs Jahre lang bewohnte Matthias Domaschk eine Dachgeschosswohnung im Gebäude der ehemaligen Tonnenmühle Am Rähmen 3 im Jenaer Stadtzentrum. Von 1975 bis 1981 war die Wohnung für ihn ein Ort des privaten Rückzugs, aber auch der Politisierung. Hier wohnte er zunächst mit seiner Partnerin Renate Groß und der gemeinsamen Tochter Julia, die im Dezember 1976 geboren wurde. Später, als Renate Groß mit Julia in die Bundesrepublik ausgereist war und Matthias eine neue Partnerin gefunden hatte, zog diese zu ihm in die Wohnung ein.
Die Wohnung Am Rähmen 3 wurde ab 1975 zum Treffpunkt für unangepasste junge Menschen aus Jena, die versuchten, aufrecht und selbstbestimmt in der DDR der 1970er Jahre zu leben. Gemeinsam lasen sie regimekritische Autor:innen aus der DDR und anderen sozialistischen Staaten, diskutierten darüber und entwarfen Ideen für einen besseren Sozialismus.
Auf Veränderungen hoffend, entwickelten sie Vorschläge zur gesellschaftlichen Mitgestaltung. Mit Renate Groß vervielfältigte Matthias Domaschk in der gemeinsamen Wohnung systemkritische Texte u. a. von Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und Reiner Kunze. Diese und weitere riskant eingeschmuggelte Texte aus dem Westen, deren Besitz als Straftat galt, gaben sie im Freundes- und Bekanntenkreis weiter. Per Schreibmaschine tippten sie die einzelnen Seiten ab oder fotografierten sie mit der Kamera. Die Abzüge spannten sie zum Trocknen auf einer Wäscheleine quer durch die Küche.
Im November 1976 wurde die Wohnung Am Rähmen 3 zu einem der Zentren des Protests gegen die Ausbürgerung des SED-kritischen Liedermachers Wolf Biermann. Bekannte Kulturschaffende hatten in einem Brief an die Staats- und Parteiführung die Ausbürgerung kritisiert. Dem Protest schlossen sich mehr als 60 Jenaer:innen an. Es folgten Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Von der Wohnung Am Rähmen 3 aus verbreiteten Matthias und andere Informationen und organisierten weitere Unterschriftensammlungen über Jena hinaus.
Für sein Engagement schloss sein Ausbildungsbetrieb, der VEB Carl zeiss, Matthias im März 1977 auf Anweisung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) von Abitur und Studium aus. Das MfS stufte Matthias Domaschk als „feindlich-negativ“ ein, sammelte Informationen über ihn, leitete Ermittlungen und „Zersetzungsmaßnahmen“ ein. Mitarbeiter des MfS durchsuchten die Wohnung Am Rähmen 3 und beschlagnahmten Bücher, Briefe, Fotos, Tonbänder und private Aufzeichnungen.
Die Wohnung blieb jedoch ein Anlaufpunkt für Unangepasste in Jena. Matthias und Renate unterstützten von dort aus in Zusammenarbeit mit dem West-Berliner Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus politisch Inhaftierte in der DDR. Darüber hinaus nahmen sie Kontakt zu den polnischen und tschechischen Bürgerrechtsorganisationen KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) und Charta 77 auf.
Mehrfach musste Matthias Verhöre durch die Polizei und das MfS über sich ergehen lassen. Das letzte, stundenlange Verhör fand in der MfS-Untersuchungshaftanstalt in Gera statt, wo er am 12. April 1981 im Alter von 23 Jahren starb. Sein Tod bewirkte eine weitere Politisierung zahlreicher junger Erwachsener im Widerspruch zur SED-Diktatur weit über Thüringen hinaus.
Von 2020 bis 2022 beschäftigte sich der Journalist Peter Wensierski noch einmal intensiv mit der Biografie und den Todesumständen Matthias Domaschks. Er wertete Akten aus dem Herrschaftsapparat der DDR, aber auch Selbstzeugnisse von Matthias‘ Familie, Freund:innen und Weggefährt:innen aus. Darüber hinaus führte Wensierski Interviews und Gespräche mit Zeitzeug:innen, darunter auch ehemaligen Mitarbeitern des MfS, die an den Vernehmungen im April 1981 beteiligt waren. Seine Recherchen veröffentlichte Peter Wensierski im März 2023 in Form des erzählten Sachbuchs „Jena Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk“ (Christoph Links Verlag).
Nach dem Erscheinen des Buches entschied die jenawohnen GmbH, eine Gedenktafel am Ort des ehemaligen Wohnhauses von Matthias Domaschk zu installieren. Die jenawohnen GmbH ist Eigentümerin des Neubaus, der 2014 nach dem Abriss des Altbaus entstand. Die Installation der Gedenktafel entspricht einem langjährigen Wunsch der ehemaligen Partnerin von Matthias Domaschk, Renate Ellmenreich, und dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAZ). Dessen Sitz befand sich von 2001 bis 2008 ebenfalls Am Rähmen 3. In Abstimmung mit JenaKultur und dem ThürAZ ließ jenawohnen eine ergänzende Tafel gestalten, die weiterführende Informationen zu Matthias Domaschk enthält.
Am Freitag, dem 25. August 2023, findet um 14:30 Uhr die feierliche Einweihung beider Tafeln Am Rähmen 3 statt. Interessierte sind herzlich eingeladen!
Wir bedanken uns bei Katharina Kempken vom Thüringer Archiv für Zeitgeschichte für diesen Gastbeitrag.
Weitere Informationen zu Matthias Domaschk und zum ThürAZ:
www.thueraz.de.
Weitere Publikationen zur Vita und zum Tod Matthias Domaschks:
Batz, Julia/ Klause, Matthias Olaf: Matthias Domaschk, hrsg. von der Gedenkstätte Amthordurchgang e. V., Gera 2012.
Ellmenreich, Renate: Matthias Domaschk. Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären, hrsg. vom Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Erfurt 1996.
Hildebrand, Gerold: Matthias Domaschk. Eine turbulente und unvollendete Jugend in Jena, in: Horch und Guck, Zeitschrift des Bürgerkomitees ‚15. Januar e. V.‘, Sonderheft 01/2003 zu Matthias Domaschk.
Klier, Freya: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand, Berlin 2007.
Lenski, Katharina: Im Schweigekreis. Der Tod von Matthias Domaschk zwischen strafrechtlicher Aufarbeitung und offenen Fragen, in: Ganzenmüller, Jörg (Hg.), Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Köln/Weimar/Wien 2017.
Pietzsch, Henning: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989, Weimar 2005.
Pietzsch, Henning: Matthias Domaschk 2.0. Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81?, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2019.
Reiprich, Siegfried: Der verhinderte Dialog. Meine politische Exmatrikulation, Berlin 2001.
Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren, Berlin 2002.
Strempel, Tino: Matz aus Jena. Drei Tage und ein Leben, Papendorf 2021.
Wich, Jochen/ Morgner, Martin: Das verlorene Leben des Matthias D. (Musiktheaterstück), Wiesbaden 2016.
(Das Exposé haben wir hier als Download angefügt. Bei Interesse wenden Sie sich gern an uns, damit wir den Kontakt zu Herrn Wich herstellen können! Anm.d.R.)
„nach liebe fragen kann ich nicht/ nach schönheit fragen will ich nicht/ aber nach unserem leben/ denn es ist liebe und schönheit“
Matthias Domaschk in einem Brief an seinen Freund Klaus-Dieter Siegel („Heppe“) vom 4. Juni 1978