Oberbürgermeister Thomas Nitzsche gedenkt an den 8. Mai 1945
Anlässlich des Gedenkens an die Befreiung aus nationalsozialistischer Gewaltherrschaft vor 78 Jahren gedachten vor der Jenaer Stadtkirche Oberbürgermeister Thomas Nitzsche zusammen mit Stadtratsmitgliedern und Bürgerinnen und Bürger der Stadt.
Rede des Oberbürgermeisters anlässlich des Tages der Befreiung
Sehr geehrte Damen und Herren,
seien Sie herzlich willkommen geheißen zu unserer Gedenkveranstaltung anlässlich des Tages der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945, vor 78 Jahren, kapitulierte das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht bedingungslos. Damit ergaben sich alle unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz schwiegen die Waffen.
Vorausgegangen waren sechs Jahre des schlimmsten Krieges, den die Welt bis dahin und bis heute erlebt hatte. Geschätzte 55 Mio. Menschen fanden in diesem Krieg den Tod.
Mit großem Abstand hatte die Sowjetunion mit rund 24 Mio. Menschen die meisten Opfer zu beklagen, knapp 10 Mio. Soldaten und ca. 14 Mio. Opfer in der Zivilbevölkerung. Dies sind kaum vorstellbare Zahlen, mehr Menschen als in den neuen Bundesländern und Berlin zusammen leben.
Das ukrainische Volk als Teil der Sowjetunion musste mit großem Abstand den größten Blutzoll entrichten. Die Ukraine hatte mindestens acht Millionen Kriegsopfer zu beklagen, darunter über fünf Millionen Zivilisten, Frauen und Kinder, die im deutschen Vernichtungskrieg von der SS oder der Wehrmacht ermordet wurden. Diese schrecklichen Zahlen schließen auch 1,6 Mio. Juden ein, die im häufig zu wenig beachteten Holocaust auf dem Gebiet der Ukraine von den Nazis durch Erschießungen umgebracht wurden.
Die Ukraine verlor im deutschen Vernichtungskrieg ein Viertel (!) der Bevölkerung. Von etwa 40 Mio. Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer ein Ukrainer oder eine Ukrainerin.
Der heutige Gedenktag kann nicht begangen werden, ohne dass der seit bald 15 Monaten dauernde Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in das Bewusstsein kommt. Auch wenn des Endes des 2. Weltkriegs in Deutschland heute nicht losgelöst vom aktuellen Krieg in der Ukraine gedacht werden kann, so gedenken wir heute doch aller Opfer und aller Leistungen und Verdienste, insbesondere auch der Sowjetunion, die zur Niederschlagung Nazi-Deutschlands vor 78 Jahren führten.
Seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 im Bundestag anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges gilt der 8. Mai in West- und heute in ganz Deutschland als „Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Die Rede Weizäckers war Ausdruck und Kulminationspunkt eines Entwicklungsprozesses in der kritischen Auseinandersetzung Deutschlands mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Aufarbeitung dieser eigenen Vergangenheit, das Annehmen der eigenen Geschichte und das Ableiten einer besonderen Reflexion des eigenen politischen Handelns in der Gegenwart und für die Zukunft, nach innen wie nach außen – nennen wir es die besondere Verantwortung Deutschlands – war ein steiniger und langer Weg.
Wichtig ist: Die Geschichte wurde nicht unter den Teppich gekehrt, nicht totgeschwiegen. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte hat stattgefunden. Er wird jedoch nicht irgendwann endgültig abgeschlossen sein. Angesichts rechtsextremer Strömungen in unserer Gegenwart darf diese Auseinandersetzung mit der schrecklichen Vergangenheit des Nationalsozialismus nicht enden.
Am 30. Januar 1933 hatten die Nationalsozialisten mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die Macht in Deutschland übernommen. Der mehr als 10 Jahre dauernder Sturm auf die Weimarer Republik mündete schließlich im "Erfolg" der Nationalsozialisten.
Die aggressive Demontage der Weimarer Demokratie und der Aufbau der nationalsozialistischen Diktatur dauerten dann nur erschreckend wenige Wochen. Am 1. Februar 1933 wurde der Deutsche Reichstag aufgelöst, politische und demokratische Rechte wurden durch Notverordnungen des Präsidenten eingeschränkt. Das öffentliche politische Leben war rasch von nationalsozialistischem Terror gekennzeichnet.
Spätestens nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 hatte der Reichstag praktisch jegliche Entscheidungskompetenz verloren. Auch Parlamentarier wurden nun ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt, gefoltert, viele ermordet.
Die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November und an den folgenden Tagen 1938 waren ein weiterer Schritt in den Abgrund. Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 hin zu einer systematischen Vertreibung als Vorstufe zur drei Jahre später beginnenden systematischen Vernichtung, dem Holocaust. 1.400 Synagogen und Betstuben wurden in den Pogromen zerstört, tausende Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe geplündert, rund 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, hunderte starben, schon damals.
Kurz vor Kriegsbeginn am 1. September 1939 gehörten knapp 2.200 Jenaer Bürger der Wehrmacht und dem Reichsarbeitsdienst an. In den Zeitungen erschienen bald die ersten Todesanzeigen für gefallene Soldaten, manche getragen von der Trauer des Verlusts, andere von nationalsozialistischen Floskeln.
Die Zahl der Kriegstoten stieg nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 deutlich an. Wie viele Jenaer als Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS und Polizei oder des berüchtigten Polizeibataillon 311 während des Krieges umkamen, ist unbekannt. Vermutlich waren es über 2.000 Menschen.
Die Jenaer Zivilbevölkerung nahm in den Kriegsjahren erheblich zu, zunächst durch den Zuzug von Arbeitskräften und später durch ausgebombte Familien und Flüchtlinge, die in der Stadt Zuflucht suchten. Sichtbar wurde der Krieg anhand der mehr als 14.000 Zwangsarbeiter, die in Jena für ca. 320 Arbeitgeber, auch für die Stadtverwaltung arbeiten mussten.
Mehr als drei Viertel von ihnen waren in den Stiftungsbetrieben Carl zeiss und Schott beschäftigt. Menschen aus 26 Nationen mussten unter teils unmenschlichen Bedingungen arbeiten; die größten Gruppen waren Belgier und Sowjetbürger, Franzosen und Italiener. Ca. 50 Lager wurden im Stadtgebiet errichtet, weitere in den umliegenden Ortschaften kamen hinzu.
Misshandlungen und schlechte Versorgung waren an der Tagesordnung. Besonders zum Ende des Krieges hin nahmen Gewalt und Terror zu. Mehrere Zwangsarbeiter wurden in den letzten Jenaer Kriegstagen gezielt ermordet. In den Kriegsjahren wurden 342 Todesfälle registriert, doch dürfte die tatsächliche Opferzahl deutlich höher liegen.
Mehr als 100 Jenaer Bürgerinnen und Bürger wurden Opfer der Shoa. Die planmäßige Deportation der in Jena verbliebenen Juden in Ghettos und Vernichtungslager in den besetzten osteuropäischen Gebieten begann 1942. Viele setzten ihrem Leben selbst ein Ende, um diesem Schicksal zu entgehen.
Seit den 1930er Jahren war besonders Carl zeiss Jena als ein Hauptproduzent militäroptischer Geräte für die Auf- und Ausrüstung der Reichswehr bzw. der Wehrmacht bekannt und wurde so ein vorrangiges Angriffsziel der Alliierten. Zwischen 1940 und 1945 gab es in Jena insgesamt 330 Mal Fliegeralarm. Während des Bombenkriegs 1943 bis 1945 wurde die Jenaer Innenstadt mehrmals schwer getroffen, v.a. zwischen Februar und April 1945.
Insgesamt starben bei den Bombenangriffen fast 800 Menschen, darunter mehr als 100 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Der Krieg, der auch von Jena ausgegangen war, war mit voller Wucht zurückgekommen.
Als letztes militärisches Aufgebot des NS-Regimes wurden im Frühjahr 1945 hunderte Jenaer für den Volkssturm mobilisiert. Sie ermordeten mindestens zwei Dutzend KZ-Häftlinge, die auf dem Todesmarsch zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner durch die Stadt getrieben wurden. Mehr als 4.000 Häftlinge wurden noch am 11. April 1945 durch Jena getrieben, kurz vor den nachrückenden amerikanischen Truppen. Um 15.07 Uhr wurde mit der Camsdorfer Brücke von der SS der letzte intakte Saaleübergang in der Region gesprengt.
Ich bin froh, dass mit der Stele in Wenigenjena zum Zug des Todesmarsches, die wir vor vier Wochen eingeweiht haben, ein weiterer Ort des Gedenkens in Jena geschaffen wurde.
Jena ergab sich nicht freiwillig, fast drei Tage, vom 11. bis 13. April dauerte es, bis Jena einschließlich seiner dörflichen Ortsteile ganz eingenommen war. Immer wieder kam es zu kleineren und größeren Kämpfen und Scharmützeln. Ein Ultimatum der Amerikaner zur Übergabe der Stadt an den amtierenden Oberbürgermeister Hans Dittmer verstrich; die SS setzte Dittmar fest, um Verhandlungen von vornherein zu unterbinden.
Der Krieg in Jena endete am 13. April 1945, knapp vier Wochen vor der Kapitulation, der vollständigen Besetzung der Stadt durch amerikanischer Truppen. Die Zeit des Nationalsozialismus und der Krieg waren in Jena vorüber.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die nationalsozialistische Durchdringung der Stadt war vielschichtig und tief, angefangen bei der Stadtverwaltung, in der Jenaer Universität, in der Wirtschaft und Industrie wie auch in Vereinen und Verbänden bis in den privaten familiären Bereich hinein. Die Jenaer Bevölkerung hatte ganz überwiegend das nationalsozialistische System mitgetragen, teils aktiv, teils passiv.
Das Jenaer Kriegsende war kein Tag des Jubels. Apathie und Unsicherheit über die Zukunft waren weit verbreitet. Diese Gefühlslage wurde durch den Umstand verstärkt, dass die Einwohner nicht wussten, welcher Besatzungszone Thüringen künftig angehören würde.
Das Bewusstsein über das, was in den Jahren des Nationalsozialismus und besonders in den Kriegsjahren geschehen war, musste erst allmählich reifen. So brauchte es auch Zeit, die Bedeutung und Tragweite des 8. Mais 1945 als Tag der deutschen Kapitulation zu begreifen.
Zu tief saßen die Schuld und die Scham, mit verantwortlich zu sein für Völkermord und das Grauen des Krieges, und sei es durch Passivität und Wegschauen. Das Phänomen des Verdrängens, was sehr viele der Opfer wie der Täter nach dem Ende des Krieges erlebten, ergriff weite Teile Gesellschaft, auch wenn die DDR mit ihrer Gedenkkultur und Gedenkpolitik in ihrem Sinne dagegen steuerte.
Die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühjahr 1945 stattfand, ist nicht gleich die Befreiung vom nationalsozialistischen Gedankengut. Dieser Kampf bleibt uns als dauernde Aufgabe.
Der Kampf gegen Menschenverachtung, gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und Diskriminierung und für unsere Demokratie ist ein fortwährender Prozess. Wir, die Demokraten, müssen einstehen für die Grundwerte unserer Gesellschaft, ausgehend von der Würde eines jeden Menschen.
Lassen Sie uns mit diesem Bewusstsein und mit dieser Absicht den Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges lebendig halten.
Ich lade Sie nun ein, gemeinsam mit einer Schweigeminute der Opfer des Nationalsozialismus sowie derer, die für die Befreiung Deutschlands und Europas gekämpft haben, zu gedenken.