This is a cache of https://blog.jena.de/jenakultur/2021/07/26/rebell-der-liebe/. It is a snapshot of the page at 2024-11-22T12:54:44.930+0000.
Rebell der Liebe – JenaKultur-Blog
Oliver Jahn auf einer Dachterasse

Mit wenig Aufwand, etwas Wind im Haar und unbändiger Freiheitsliebe mauserte sich Oliver Jahn schon als Jugendlicher zum Staatsfeind. Erst wurde sein Vater aus der DDR abgeschoben, dann seine Freundin, dann er selbst – und seine Band Airtramp (so etwas wie die Beatles von Jena) gleich mit. In Berlin besetzte er Häuser und kämpfte mit einer deutsch-türkischen Antifa auf der Straße gegen Nazis. Als Sozialarbeiter ging er später mit ihnen Bergsteigen. Und wenn er mit seinen Nachwende-Bands Party Killing oder Los Banditos nicht gerade selbst im Kassablanca auftrat, stand er an der Tür des Clubs, in dem nun die Freiheit möglich war, für die er lange leiden musste. Heute ist der 55-Jährige unter anderem für die Organisation des Jenaer Stadtfestes verantwortlich. Mit Christian Gesellmann sprach er über Seelen-Aua, die Rolle der JG Stadtmitte für die Friedensbewegung in der DDR, Stasi in der Rose und die Notwendigkeit von Chaos.

Fotos: Heidi Gumpert

Olli, du hast schon zu dunkelsten DDR-Zeiten in einem besetzten Haus in Jena gelebt – Wie ging das denn? 

1983 haben wir ein Haus in der Zwätzengasse aufgebrochen und sind eingezogen. Das nannte sich Autonome Republik Zwätzengasse 7. Es wohnten fünf Leute fest dort, aber es hingen immer viel mehr bei uns rum. Wir teilten uns vier oder fünf Zimmer und hatten alle möglichen Spaßideen am Start. Wir hatten eine Kletterwand, machten Kampfsport, aber auch ganz viel Theater und Musik und Quatsch und Chaos.

Kannst du dir erklären, wieso das geduldet wurde? 

Ich schätze mal, dass das für die Stasi ganz günstig war. Da konnte man entspannt ein Richtmikrofon gegenüber ausrichten und außerdem hatten sie so alle Chaoten auf einem Haufen. Wir waren keine Revolutionäre, eher so Anarchospinner, Spassguerilla, Dadaisten, die gerne gesoffen und Mädchen kennengelernt haben. Damals war es ja schon übelst revolutionär, wenn sich drei Leute einen Lederhut aufsetzten und durch die Stadt gingen. Die Möglichkeiten in der DDR, sich frei zu bewegen, waren sehr überschaubar. 

Es hat dir Spaß gemacht zu provozieren?

Es war natürlich auch cool. Heutzutage interessiert es ja kein Schwein, wenn du irgendwas anderes machst. Es ist sehr schwer, Aufmerksamkeit zu erregen. Damals war das ziemlich leicht. Wir haben viele dadaistische Quatschaktionen gemacht. Bei der 1. Mai-Demo zum Beispiel haben wir uns zu zehnt schwarze Anzüge angezogen und eine schwarze Mütze aufgesetzt und haben uns nur so hingestellt und in den Himmel geguckt. Und da hast du nach ’ner halben Stunde gemerkt, wie sie dich schon geschubst haben von hinten und gezogen und irgendwann haben sie uns in die Ellos (Polizeitransporter Robur LO, C.G.) gepackt und dann war es vorbei. 

Du und deine Freunde seid damals auch für so banale Sachen wie Floßfahren und öffentlich Frühstücken von der Polizei einkassiert worden. 

Es klingt aus heutiger Sicht alles total harmlos, normal und niedlich, was wir damals so gemacht haben. Aber du darfst nicht vergessen, das war eine Diktatur, es war ein gleichgeschalteter Apparat. Da war dein Weg vorgezeichnet. Wenn du in irgendeiner Form politisch ausgeschert bist, hast du Stress mit dem Staat bekommen. FDJ, Zivilverteidigung, NVA und so weiter – das hab ich alles nicht mitgemacht. Ich hab total verweigert. Ich hab auch keinen Bausoldaten gemacht. 

Du hattest auch keinen normalen Personalausweis, sondern den sogenannten „PM12.“ Was hat es damit auf sich gehabt?

Den PM12 hatten wir eine zeitlang alle bei Airtramp. Das war so eine Art Spezialausweis für Kriminelle bzw. politisch untragbare Leute. Ich bekam meinen mit 15 und hab ihn nie wieder losbekommen. Das bedeutete, du durftest nicht ins Ausland, nicht ins grenznahe Gebiet – nicht nach Ost-Berlin und in den Rosenkeller auch nicht. Ich hatte Rose-Verbot. Was echt scheiße war, denn dort konnte man Mädchen kennenlernen. 

Musste damals jeder den Ausweis vorzeigen, bevor er in die Rose ging?

Die Rose hatte ein richtiges Stasi-Einlass-System. Das heißt, da waren mehrere Leute nachweislich bei der Stasi aktiv, die geguckt haben, wer reingeht und wer nicht. Mit dem PM12 ist man nicht reingekommen. Eigentlich ist man fast nirgendwo reingekommen. In die anderen Studentenclubs oder zum Beispiel die Ratszeise auch nicht. 

Hatte man denn mit 15 schon einen Perso?

Mit 14 hatte man schon einen. Nach der Jugendweihe warst du ja in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, sozusagen. 

Weißt du noch, was der Anlass war, weshalb dein Perso eingezogen wurde?

Meine erste große Liebe, Griseldis, stammte aus einer Roma-Familie. Die DDR war ja nicht nur ein chauvinistischer, dikatorischer Scheißstaat, sondern auch ein rassistischer Staat. Darf man auch nicht vergessen! Die haben meine Freundin und ihre gesamte Familie ausgewiesen. Sie mussten in den Zug einsteigen und ich konnte es nicht verhindern. Später versuchten wir, uns in Prag zu treffen. Ich fuhr mit zwei Freunden an die Grenze. Wir gerieten in eine Kontrolle. Die fanden einen Brief, wo unser Plan zum Treffen dummerweise drin stand. Also wurden wir einer sehr sehr gründlichen Leibesvisitation unterzogen, verhört und durften eine halbe Nacht nackt an der Wand stehen. Dann mussten wir zurückfahren, uns bei der Kripo in Jena melden. Da haben wir den PM12 bekommen. Wenn du dann später irgendwo kontrolliert wurdest und zeigtest den PM 12 vor, haben sie dich sofort mitgenommen. Irgendwann war das in Jena für mich nicht mehr nötig. Da haben die mir schon hinterhergerufen, „Herr Jahn, wo wollnsen hin? Bleiben se mal stehen, Fahndungskontrolle – Ausweis!“ Die kannten mich leider schon. Am Anfang hatte ich total Schiss. Ich hatte in der Zeit viel Angst, dass sie einen mitnehmen und vor dem Gefängnis. 

Irgendwann ist aus der Angst was anderes geworden?

Später hat mich das eher angestachelt, ich bin bockig geworden. Ich hab mir gesagt: Fickt euch, ihr kriegt mich nicht. Aber das war ganz schön naiv. Am Ende haben sie uns ständig zu Verhören aus der Zwätzengasse geholt. Fast jede Woche war einer dran, es wurde immer ungemütlicher. 

Was wollten die denn von euch wissen?

Zum Beispiel, wie unsere Kommunikationssysteme nach Westberlin aussehen. Denn wenn jemand von der Friedensbewegung hier in Jena verhaftet worden ist, stand das ein paar Tage später im Westen in den Zeitungen. 

Mit 15 bist du dann auch zum ersten Mal in der JG Stadtmitte aufgetaucht. Wie kam das?

Ich hab bei einer Fete in Lobeda Mühle, Kiki, Bolt und Pit kennengelernt, mit denen ich auch später Airtramp gründete. Wir sind schnell Freunde geworden (was wir heute noch sind), die haben mich mitgenommen in die JG Stadtmitte. Ich war ja völlig harmlos und verträumt, aber die haben aus Langeweile Kellereinbrüche in Lobeda gemacht. Ihre Eltern waren Professoren, Ingenieure bei Zeiss, Richter und Staatsanwälte. Draußen in Lobeda wohnten ja eher die Privilegierten. Im Damenviertel eher die Kinderreichen und schwierigeren Fälle der Gesellschaft.

©Heidi Gumpert

Du und deine Freunde, ihr wart ja schon die dritte Generation ausgebürgerter Jugendlicher aus Jena. Als du gerade die ersten Male die JG Stadtmitte besuchtest, war Roland Jahn gerade ausgewiesen worden, zwei Jahre zuvor war Matthias Domaschk von der Stasi ermordet worden. War dir das nicht bewusst? Hast du das ausgeblendet?

Das war allgegenwärtig. Aber wenn du einmal anfängst, mit Leuten so ein Gefühl von Freiheit zu bekommen, dann gibt’s kein Zurück. Da konntest du nicht mehr sagen, okay, jetzt geh ich doch noch in die FDJ, mach nen ordentlichen Beruf, werde Zeissianer und kauf mir dann irgendwann in 15 Jahren nen Trabi, werde mit meiner Frau glücklich in Lobeda. Das ging dann nicht mehr. Wir wollten nicht gegen den Staat leben oder den Staat abschaffen, wir wollten unsere eigene freie Insel haben, wo wir uns bewegen und artikulieren können. Und die JG Stadtmitte war der einzige Ort, wo das ging. Das darf man auch nicht vergessen, es gab eine große Szene in der DDR. Allein diese ganzen Blueser, „Kunden“ und Hippies, Punks, Skinheads und was es da alles gab an Subkultur. Die konnten aber alle nur schwer oder gar nicht miteinander. Wir haben die bei Airtramp vor der Bühne gebündelt. Die waren alle da, ich wollte alle haben. Ich wollte, dass die sich hin- und herschubsen und durchdrehen, damit irgendwie Chaos ausbricht. Damit die auch mal anfangen können aus sich herauszukommen, um die Scheiße abzuschütteln sozusagen. Mühle, mein Bandkollege, hat es gehasst, der war eher so Feingeist, intellektuell, aber ich wollte das Chaos, also positives Chaos. 

Warum wolltest du das Chaos? 

Weil ich glaube, dass das nötig ist, wenn man in so engen Strukturen unterwegs ist, damit man nicht einrostet. Von früh bis nachmittag auf der Arbeit ist und dann musste noch einkaufen und Alltag blablabla. Ich habe dann viele Veranstaltungen mitorganisiert, auch in der Friedenskirche. Da ging schon das Chaos los, plötzlich standen sich da Skinheads und Punks gegenüber. Und Polizei hat ja nicht geholfen, die wollten nur am Ende alle einkassieren, haben teilweise die Kirche umstellt. Der Stadtjugendpfarrer Ulli Kasparick und ich sind immer raus und rein, haben verhandelt, dass die die Leute nicht verhaften. Währenddessen pissten die Punks überall an die Gräber, an die romantischen und so. Die „Kirche von Unten“ war der einzige Ort in der DDR, wo du überhaupt sein, wo du dich artikulieren und Subkultur auch leben konntest. Dadurch haben viele auch ausgerechnet dort ihren Ärger kanalisiert. Du darfst nicht vergessen, mit langen Haaren bist du hier in der Ratszeise, in der Rose, du bist nirgendwo reingekommen. Du warst überall wie ein Aussätziger. Die Schwulen- und Lesbendisko in der JG war die geilste Party überhaupt. Die hat Alf-K. Heinecke zusammen mit Martin Döhler und Teilen des Arbeitskreises „Homosexuelle Liebe“ der evangelischen Studentengemeinde angeleiert. Da sind alle hin gerammelt. Da wurde getanzt, es war ein besonderes Klima in der Luft. Wir haben von Anfang an gelernt, dass die unterschiedlichen Menschen, auch die anstrengenden, dass man sich aushalten muss, ein bisschen Toleranz füreinander entwickeln sollte, auch wenn man so anders ist.

Mit Martin Döhler gehörte sogar ein Bandmitglied von Airtramp zu den späteren Gründern des Kassa. 

Alf-K. Heinecke, ebenfalls ein Gründer des Kassa, war auch ein wichtiger Teil von Airtramp, er hatte ein großes Musikwissen und eine große Wohnung, wo sich alle Musiker gern getroffen haben. Der war schon anders drauf, der hat so viel Reggae und Ska gehört und Vorträge dazu gemacht. Ich hab mit Alf einen Vortrag über Roots Reggae gemacht, das war glaube ich 1984.

War die JG ein offener Treff auch tagsüber?

Ja. Es gab ein Vorbereitungsteam, wo jeder mitmachen konnte. In diesem Team wurden dann Veranstaltungen zusammen festgelegt. Das war alles sehr gleichberechtigt, ein gewisser demokratischer Prozess, auch wenn wir diesen Begriff damals nicht benutzt haben. Es war aber trotzdem so, dass alle möglichen Leute, auch die, die ein bisschen anders und schwierig waren, da ein Platz hatten. Das war klar. Und in dem Geist bin ich aufgewachsen. Als ich reinkam in die JG Stadtmitte, das war ja vielleicht so 82/83, da waren noch ziemlich viele „Gurus“ da, Leute mit richtig langen Haare, langen Bärte, und ich dachte erst: Hä was isn das? Was sind das für Freaks? Hatte aber auch ein bisschen Ehrfurcht vor denen, weil die so eine große Aura hatten und in der ungeschriebenen Hierarchie ganz oben standen. Aber später haben wir das dann nicht mehr Ernst genommen, da haben wir die die ganze Zeit auch nur verarscht und Quatsch gemacht. 

Der Historiker Henning Pietzsch leitet die Geschichtswerkstatt Jena, bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1988 war er regelmäßiger Gast der JG Stadtmitte. 2005 veröffentlichte er seine Doktorarbeit „Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970–1989“, die man hier downloaden kann.

Wie war das mit Schule und Ausbildung in der DDR für dich?

Stressig. Ich hab Gas- und Wärmenetzmonteur gelernt im Energiekombinat Gera. Dann hab ich im Heizwerk Nord, düsterer ging es nicht, mal gearbeitet, in der Löbstedter Straße zwischen „Russen-Bäckerei“ und Schlachthof. Plötzlich gab es für mich keine Planstelle mehr, weil ich den Dienst an der Waffe verweigert hatte. Dann hab ich mich als freier Gitarrenlehrer durchgeschlagen, doch es schwebte dieser Asozialenparagraf über mir, sie hätten mich theoretisch in den Knast schicken können, weil ich keinen richtigen Job hatte. Mit Glück wurde ich Heizer und Hausmeister in der Musik- und Kunstschule. Aber Abi oder studieren war für mich nicht drin.

Warst du als Heizer und Hausmeister nicht total unterfordert?

Den anderen Airtramp-Mitgliedern ging es ja ähnlich, die haben meist bei der Volkssolidarität gearbeitet, Essen ausgefahren und so. Aber dadurch, dass wir nix zu tun hatten, haben wir dann halt fünfmal die Woche geprobt. Wir hatten zu Beginn null Ahnung. Wir hatten alte Radios, da hat man irgendwie was drangelötet, das klang erstmal bestimmt ganz schlimm, und dann wurden wir immer besser. 

Aufnahmen von Airtramp aus den Jahren 1984 bis 1986 kann man hier anhören. Sie sind in den Jahren 1984 bis 1986 in den Räumen der JG „Stadtmitte“ entstanden. Zum Equipment gehörten: ein Lötkolben, diverse Drähte, ein Sammelsurium an Mikrofonen, ein Vermona 12 Kanal Mixer, Billigteile wie EQ und Kassettendeck aus dem Westen sowie ein selbstgebauter Kopfhörerverstärker für 6 Kopfhörer in einer Pappkiste. 

Wie haben deine Eltern das alles wahrgenommen?

1976 hat sich der Pfarrer Brüsewitz vor seiner Kirche angebrannt, um gegen die angepasste Rolle der Kirche in der DDR zu demonstrieren. Das war der beste Freund meines Vaters Ernst Sagemüller. Daraufhin ist mein Vater, der Regisseur war zu DDR-Zeiten, zwangsweise abgeschoben worden. Ich hab meinen Vater nie im Osten kennengelernt.

Meine ganze Familie hat Stress gekriegt wegen mir. Sippenhaft. Diktatur. Meine Mutter hat in der Musikschule Ärger bekommen. Meine Schwester war an der Palucca-Schule, später beim Friedrichstadtpalast, die haben sie entlassen. Mein Bruder war Profi-Fußballer in der zweiten DDR-Liga und ist rausgemobbt worden. Im Februar 1987 wurde ich dann in den Westen abgeschoben.

Wie ist das abgelaufen mit deiner Ausbürgerung?

Ich hab mich ein halbes Jahr lang um eine Frau bemüht, Tina, die wohnte auch in der Zwätzengasse. Irgendwann durfte ich bei ihr übernachten. Früh um 6 klopfte es an der Tür, und ging auch gleich auf, man hat ja nie zugeschlossen, und plötzlich war das Zimmer voller Polizisten und Kriminalpolizei. Ich lag im Bett. „Sind Sie Herr Jahn?“ Ich sage, ja. „Ihr Zug fährt 13:30 Uhr“, sagten die, und dass ich noch paar Ämtersachen erledigen müsste vorher. Ich wollte mich wenigstens noch von meiner Mutter verabschieden, die wohnte im Damenviertel, aber ich konnte sie nicht erreichen. Da hab ich einen Zettel an die Tür gemacht: Bin im Westen. Von Jena-West sind immer die scheiß Züge abgefahren. Da ist auch Griseldis abgeschoben worden.

Du bist da einfach reingesetzt worden? Hat niemand aufgepasst?

Nein, die hätten dich ja eh gekriegt. Du musstest diesen Zug nehmen, Tina hat mich noch zum Bahnhof gebracht. Ich bekam eine Staatenlosigkeitserklärung. Ich wünschte, ich hätte die noch. Die musste ich allerdings abgeben an der Grenze. Das war so einfach. Man hat ja immer soviel gehört, Schüsse an der Grenze und so. Ich hab einfach diesen blöden Wisch abgegeben und durfte weiterfahren. Und dann war ich plötzlich im Westen. Ich musste ins Aufnahmelager in Gießen. Ausgestiegen bin ich aber erstmal in Essen. Da war die Griseldis, sie lebte in einer Kommune. Ihr Freund war aber eifersüchtig und hat das Mobiliar kaputt gehauen, das war voll psychomäßig. Darfste nicht vergessen, die hat drei Jahre auf mich gewartet, und wir waren so jung. Fantasie und Erwartungen entsprachen nicht der Wirklichkeit. 

Und was hast du dann gemacht? Die anderen Mitglieder von Airtramp sind ja ebenfalls abgeschoben worden.

Dann haben meine ganzen Kumpels angerufen und meinten, ey, was willstn du im Westen? Komm nach Westberlin. Westdeutschland, da will niemand hin. Also bin ich nach Berlin geflogen. Die haben mich abgeholt am Flughafen, drückten mir einen Joint in den Mund, dann suchten wir erstmal zwei Stunden lang den Ford Capri, fuhren nach Kreuzberg. Ich hab nur noch gelacht, war völlig drüber und dann hatte ich da plötzlich ne WG, wohnte dort mit ein paar Punkerfrauen aus Westdeutschland und den Jungs von Negazione, das ist ne ziemlich krasse Band aus Italien gewesen. Wir wohnten gegenüber vom Rauch-Haus, aus meinem Fenster habe ich auf den Mauerstreifen geschaut. Wir machten gleich Musik. Die waren mir erst zu schnell. Ich war ja eher so hippiemäßig, bei denen ging sofort die Post ab.

©Heidi Gumpert

„Zwischen Türken und Westdeutschen wohnen Hunderte Jenaer in Kreuzberg…“, heißt es in einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1987. War das wirklich so?

Ja. Als wir in Kreuzberg ankamen, war für mich ein Zimmer in ner WG geklärt, ich hätte sofort einen Job haben können, die haben mich bei den Ämtern unterstützt. Peter Rösch oder Roland Jahn waren für mich da, man hat sich geholfen. Es gab eine Jena-Community, die wirklich gut zusammengehalten hat. 

Du hast dann eine Kampfausbildung gemacht. Wieso?

1989 ging der Häuserkampf in Berlin los. Wir haben ein Haus besetzt, da stand noch die Mauer. Das heißt, wir haben unseren West-Ausweis vorgezeigt, weil wir offiziell im Westen gewohnt haben, sind über die Grenze nach Ost-Berlin in die Adalbertstraße am Kottbusser Tor, haben dort in unserem besetzten Haus gewohnt. Wenn wir in die Schule mussten (wir haben damals Abi am Schöneberg Kolleg nachgeholt) oder zum Arbeitsamt, dann sind wir wieder zurück und haben immer unseren Ausweis vorgezeigt. Irgendwann waren die Grenzer weg. Und irgendwann war ein Loch in der Mauer und dann war sie weg. 

Als die Mauer weg war, kamen die Nazis aus ihren Löchern.

Gegenüber von unserem besetzten Haus gab es ein Neubaugebiet, wo plötzlich ganz viele Nazis ankamen und uns ständig überfallen haben. Am Anfang wollten wir nur reden, das ist aber mit Steinen und Molotowcocktails beantwortet worden. Die wollten uns ausräuchern. Also fingen wir an, uns zu bewaffnen und zu radikalisieren. Ich habe drei-, viermal in der Woche Kampfsport gemacht. Da war ein chinesischer Trainer, der hat Kung Fu unterrichtet, und dann war noch einer von der PLO, der hat in Nahkampf ausgebildet. Ziel war, dass wir im Straßenkampf gut funktionieren. Wir mussten uns selber helfen, weil von der überforderten Ost-Polizei keine Hilfe zu erwarten war. Nach einem krassen Überfall durch die Nazis haben wir uns zusammengesetzt und gesagt: Das passiert uns nicht nochmal. Irgendwann haben wir die uns auch nochmal geschnappt, eingekesselt, hier und da paar aufs Maul gegeben. Dann haben wir einige nackt ausgezogen und gesagt: Hier, wir haben jetzt deinen Ausweis, kennen deine Adresse, wenn nochmal irgendwas passiert, stehen wir bei dir vor der Tür. So haben wir versucht, ein bisschen Ruhe reinzukriegen, damit wir da friedlich leben konnten. Aber es war schon ne ganz schön aufgeheizte Stimmung. Ich hab mit einer deutsch-türkischen Antifagruppe trainiert, Flugblätter verteilt und im Ernstfall relativ zielgerichtet versucht, die Dinge zu klären. Durch die gesamte Situation der besetzten Häuser in Berlin, gab es plötzlich eine extreme Power und starke Vernetzung in der Szene. Auch zum besetzten Haus in der Karl-Liebknecht-Straße 58 in Jena gab es gute Kontakte.

Ich hatte Probleme, die Bilder von dir von vor und nach der Wende in Einklang zu bringen. Ich habe dich da kaum wiedererkannt…

Ich mich auch nicht. 

Ich meine, klar, neue Klamotten und so. Mehr Muskeln. Aber selbst die Körperhaltung und die Gesten sind ganz andere…

Da ist viel passiert, verletzungsmäßig. Wenn Verletzungen passieren, hat man so ein taubes Gefühl und ist zu vielem fähig. 

Du meinst die Verletzungen, die dir zu DDR-Zeiten zugefügt wurden?

In diesem Film von Wensierski direkt nach der Ankunft in West-Berlin hab ich noch gar nichts gecheckt, ich hab noch gar nicht realisiert, dass ich im Westen bin, was es überhaupt bedeutet, im Westen zu sein, und was ich da zu tun habe. Ich stand völlig neben mir, lief wie im Nebel rum. An eine Aufarbeitung der Erlebnisse im Osten war nicht zu denken, es strömte ja so viel Neues auf uns ein. Das war alles zu viel und zu schnell passiert für mich, vermute ich heute mal. 

Es ist auf jeden Fall sehr viel zu verarbeiten für einen Teenager. Was hat denn Kreuzberg auf dich für einen Eindruck gemacht?

Verrückt, kalt! Düster, grau, brutal, direkt, heftig. Wir haben erstmal Abi nachgemacht. Und sind aber natürlich auch um die Welt gefahren. Wir hatten uns alle krankschreiben lassen auf DDR-Depressionen, haben fortlaufend unsere Gehälter des Ostens gekriegt. Im Osten war Hausmeister/Heizer ein Looserjob, aber im Westen war es eine gutbürgerliche Arbeit, wo du plötzlich Kohle gekriegt hast. Also haben wir uns beim Arbeitsamt das Geld abgefasst, sind erstmal in der Weltgeschichte rumgefahren. Das war natürlich schon geil. Das erste Mal Spanien und Portugal sehen. Mühle, Wolfi und ich, wir haben eine Zeit lang Straßenmusik in Italien, Kroatien und Griechenland gemacht, einfach losgefahren, keiner hatte einen Führerschein.

Jürgen Fuchs, der in Jena großartige Bücher geschrieben hatte und zehn Jahre vor dir ausgebürgert wurde, meinte, im Westen gab es noch kurz einen Hype um ihn, aber dann hat sich keiner mehr für ihn oder seine Literatur interessiert. War es bei dir ähnlich?

Ich habe Jürgen Fuchs in Berlin kennengelernt. Das war ein sehr nachhaltiger Eindruck, den ich von dem Treffen mit ihm hatte. Weil das ein sehr authentischer, sehr tiefer und toller Mensch war. Wir hatten da so einen Kreis, um die Jenaer weiter zu unterstützen. Als Freya Klier und Kraftczyk verhaftet wurden, haben wir zum Beispiel Demonstrationen an der Mauer organisiert. Und ja, mir gings auch so. Im Osten hatten wir was in unserer Szene zu sagen gehabt, wurden erst genommen. Wir konnten uns artikulieren, hatten ein gemeinsames klares Feindbild, diese dämlichen Volltrottel von betonköpfigen Opafunktionären. im Westen hat man mich immer so vorgestellt: „Hier ist der Olli ausm Osten.“ Erste Frage immer: „Wie bistn rübergekommen?“ Das war einfach so, du hast dieses Stigma gehabt. Ich kannte Leute, die haben in Jena extremes Thüringisch gequatscht, und in Berlin haben die auf einmal hochdeutsch geredet, weil die keinen Bock mehr hatten, in diesem Klischee rumzuschwimmen. Man hat sich nicht besonders ernst genommen gefühlt als Zoni. Was mich auch so ein bisschen unflexibel im Denken gemacht hat. Ich war da echt ein bisschen schüchtern und eingeschüchtert, hab teilweise auch geschluckt, dass ich mich so ein bisschen zweiter Klasse fühlen sollte. Eigentlich war an deiner Person gar nicht so wirklich ein Interesse, sondern eher an der Story. Der Tod von Matthias Domaschk ist jedenfalls nie aufgeklärt worden und der von Jürgen Fuchs auch nie. 

Kampfausbildung und Straßenkampf – waren das auch so Versuche, überhaupt erstmal wieder klar zu kommen?

Bestimmt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das gut für mich war. Zurück in Jena hab ich Freunde wiedergetroffen, die so wirklich coole, ruhige typische Jenenser waren, wo du erstmal zu denen hingehen kannst und dann wird Tee getrunken und dann wird Schach gespielt und dann wird gequatscht, das kannte ich überhaupt nicht mehr. In West-Berlin war Aktion angesagt, du hast Leute getroffen, mit denen bist du weggegangen. Du hast niemanden Zuhause getroffen, mit dem den ganzen Abend bei nem Tee gelabert, das gab’s nicht. Mir haben dann auch Leute gesagt, Ey das ist krass, wie hart du geworden bist. Ich hab das aber gar nicht so richtig wahrgenommen. Weil ich auch so ideologisch gefärbt war. Wenn jemand was sagte, was nicht in mein Weltbild passte, habe ich mir manchmal das Recht herausgenommen körperlich zu werden, weil er der Böse und ich der Gute war, so in der Richtung. Ich hab damals sehr zielgerichtet reagiert, ohne zu zucken. Als ich nach der Wende nach Jena zurückkam, hab ich mich generell erstmal gewundert, was hier los war. Das kannte ich von West-Berlin so nicht, dass Ausländer gejagt werden und abends konnte man nicht entspannt auf der Straße rumlaufen. Johannisstraße, da war oft Action. Ich hab 1993 im Kassa als Türsteher angefangen, ich dachte ich sehe nicht richtig, was da abging. Also es war schon ne krasse Rauheit an der Tür. Man musste da erstmal bestimmte Markierungen setzen, sich Respekt holen, damit Ruhe einkehrt. 

Trotzdem hat es nicht lang gedauert, da bist du mit Nazis Bergsteigen gegangen…

Genau, Outward Bound hieß das Konzept. Da bin ich mit zehn vorbestraften Nazis, die kurz vorm Gefängnis waren, in die Berge, nach Berchtesgaden gefahren, um da ein Iglu zu bauen und darin zu übernachten. Da hab ich die so ein bissl näher kennengelernt und gemerkt, dass jeder ein Individuum für sich ist, und dass man nicht pauschalisieren sollte, weil das einfach nicht funktioniert. Jeder von denen hatte seine eigene Geschichte.

 

©Heidi Gumpert

Wie kam es denn dazu?

Ich habe in Jena Sozialpädagogik studiert und ein Praktikum in dieser Richtung gesucht, da ich einfach gemerkt habe, dass Gewalt echt nicht die Lösung ist. Das wusste ich auch schon früher, ich kam ja aus der pazifistischen Denke. Aber diese West-Berliner Härte der Straße hatte mich davon abgebracht. Und auch die Leute, mit denen ich da unterwegs war. Du darfst nicht vergessen ich war im Hausplenum, Straßenplenum, Bezirksplenum Vertreter und dann saß ich am Runden Tisch, wo es darum ging, dass sämtliche besetzten Häuser in Berlin einen Mietvertrag kriegen, also alle oder keiner. Das heißt, ich war ziemlich tief da drin. Ich hab mich zum Beispiel damals nie mit nem Nazi unterhalten, überhaupt nicht. Nazi aufs Maul, aus und fertig. 

Hat es was gebracht, mit den Nazis zu reden?

Das ist schwer zu sagen. Die sind fast alle in den Knast gewandert. Das war auch sicher etwas blauäugig gewesen. Mir ging es um eine direkte Auseinandersetzung, darum, selbst mehr zu begreifen. Damals war ich körperlich auch wirklich fit und konnte denen was dagegensetzen, so dass die merkten, dass sie sich körperlich nicht mit mir anlegen sollten, sondern dass es eher um miteinander reden und Kommunikation geht. 

Was ist denn deine Geschichte mit dem Kassa?

Ich hab im Kassa als Türsteher angefangen, da war es noch im Villengang. Mit Didi, Olaf, Akki und anderen Freunden. Es war sehr bunt und oft unübersichtlich an der Tür. Und da gingen solche Sachen ja auch gleich los wie Überfall aufs Kassa, wo da eine große Gruppe von Nazis auf die Tür zukamen. Wir haben zu fünft oder sechst gesagt, okay, wir gehen jetzt hier raus und machen die Tür hinter uns zu. Wenn wir zurückkommen, gibt’s ein Klopfzeichen, ansonsten macht ihr bitte nicht mehr auf. Und dann gings uff! ha! zack! Hehe. Ich hab dem Didi in diesen Momenten immer den Rücken freigehalten. Es war wichtig, dass wir fest zusammen gestanden haben. Didi hat auch diese ganze Türsteherphilosophie sehr stark vertreten, und wir haben alle von ihm gelernt und dann gemeinsam Stück für Stück weiterentwickelt. Weil eigentlich waren wir Leute, die alle keinen Bock auf Gewalt hatten. In erster Linie war das Kassa für mich wirklich ein underground Club, multikulti, der ganz ganz viele tolle Sachen und Bands  am Start hatte, ganz viele verschiedene Musikstile, und es war großartig, diese ganze breitgefächerte Kultur mit zu erleben und mit zu entwickeln. Das prägte viele Menschen unserer Stadt.

Jena ist eine Provinzstadt, wo Menschen ne zeitlang sind und wenn sie sich weiterentwickeln wollen, dann gehen sie woanders hin. Aber damals gab es noch ganz viele verschiedene Szenen, das gibts ja jetzt nicht mehr. Es gab ne Gitarren- und Hardcore- und Ska- und Dark Wave- und Hip-Hop-Szene – nicht nur die Technoszene. Und es gab zum Beispiel auch die Inge, die in die Monatshefte des Kassablanca Gedanken über Sinnhaftigkeit des gemeinsamen Agierens gebracht hat. Ich habe das geliebt, weil genau darum gings ja, dass wir ne Gemeinschaft sind, die zusammen etwas besonderes in die größere Gemeinschaft hineingeben. Trotzdem sollte man sich immer fragen, wo stehen wir, was macht Sinn, was macht keinen Sinn, war das jetzt cool oder nicht? – kann man ja alles mal fragen, das kostet ja nichts. Sowas war für mich wichtig und ich bin da dann auch irgendwann an meine Grenzen gekommen und dann hatte ich keinen Bock mehr, da bin ich rausgegangen. Mir war das dann irgendwann bissl zu öde, nur an der Tür zu stehen, also ich wollte dann auch weiter. Trotzdem hab ich auch später immer wieder die Kollegen besucht und hab mich an der Tür auch als Gast wohlgefühlt.

Auch als Sozialarbeiter warst du im Umfeld des Kassa weiter tätig.

Mich interessieren Menschen, die in extremen Situationen sind. Wenn einer so total zugehackt vor mir sitzt, und irgendwann entdeckt man ne total tolle Seite an dem und merkt wie seine Augen glänzen und der traut sich den Scheiß aber einfach nicht zu, ist halt ein Angstbeißer oder so, und dieses Angst beißen hat den natürlich zehn Jahre in den Knast gebracht und jetzt denkt er sein Leben ist zu Ende, dann sag ich: Ey nee vergiss es, dein Leben ist zu Ende, wenn es zu Ende ist. Und wenn du rauskommst, haste die Chance irgendwie den Arsch zusammenzukneifen und weiterzugehen und mal was zu lernen oder du kannst halt wieder in dein Loch zurückgehen. Das kannst du dir überlegen. Du kannst was geiles machen. Das find ich spannend, sowas.

©Heidi Gumpert

Wie hast du denn die ganzen traumatisierenden Erlebnisse in deinem eigenen Leben letztlich verarbeitet?

Wahrscheinlich mache ich deswegen bis heute weiter diese Arbeit als Ausstiegsberater aus Rechtsextremismus und Gewalt. Es gibt bestimmte Erlebnisse, die kannst du nicht verarbeiten. Ich hab ja das ganze Paket abgefasst in der DDR, nicht das halbe, und das ist wie so ne Wunde, die sich nicht schließt und wenn man zum Beispiel über solche Sachen redet, spürt man sie sofort. Das ist real, man spürt es richtig deutlich. Aus dieser Wunde kommt ganz viel Energie. Die ist mittlerweile sehr positiv, aber das war auch mal ganz anders. Diese Energie hat es mir ermöglicht, alle möglichen Sachen zu machen. Und gefühllose Sachen sicherlich auch. Deswegen kann ich manchmal diese krassen Typen gut verstehen. Das ist ja keine Entschuldigung für deren Taten, aber ich verstehe, dass es eine Quelle gibt, so eine Aua-Quelle, wo das herauskommt. Ich denke, was meine Sache angeht, habe ich das inzwischen ganz gut reflektiert. Aber trotzdem wird es immer da sein. 

Drogenberater bist du auch gewesen.

1993 hab ich bei der Suchthilfe Thüringen angefangen. Damals hat sich der Arzt hier ja praktisch noch die Handschuhe angezogen, wenn ein Kiffer gekommen ist. Die hatten überhaupt keine Ahnung, gab in der DDR ja auch kaum Drogen außer Alkohol. Nach der Wende gab es hier in Jena plötzlich 300 Heroinabhängige. Das war ziemlich viel, aber durchaus im bundesdeutschen Durchschnitt. Plötzlich hattest du auch das Thema Minderjährige und Prostitution und so ein Scheiß, gute Freunde auf Heroin. Also wir haben ein Hilfesystem aufgebaut für Ostthüringen, das hab ich dann so drei Jahre gemacht. Ich hatte auch viel mit Migrationsthemen zu tun. Irgendwann sagte mein Chef: „Hier, mit den Kanaken kannst du arbeiten.“ Und genau, dann bin ich rausgemobbt worden aus der Nummer. Das war für mich auch ne sehr spannende Zeit, aber dann hatte ich eigentlich keinen Bock mehr auf Sozialarbeit. Ich wurde dann Musikmanager und hab bei der Kulturarena gearbeitet. Mittlerweile organisiere ich das Stadtfest hier in Jena, das war auch eine schöne Herausforderung. Denn vor 12,13 Jahren – keiner von uns ist da aufs Stadtfest gegangen.

Warum nicht?

Weil das ne ziemlich stumpfe Angelegenheit war. Immer diese Coverbands, und die Leute bringen ihr eigenes Bier mit und schlagen sich. Und Leute die anders aussehen, die werden vom Platz gejagt. Damals hat Carsten Müller gesagt: „Hier, das machst du jetzt.“

Was hast du dann anders gemacht?

Wir haben das konzeptionell nochmal neu aufgezogen. An diesen Schlägertagen, wo es immer nur Stress gab, haben wir zum Beispiel mal eine portugiesische Folkloreband spielen lassen. Und ganz viel Security aufgestellt. Oder eine karibische Nacht eingeführt, wo eine kubanische Band spielt, und dann kommen alle Tanzvereine aus ganz Thüringen und plötzlich wird auf dem ganzen Marktplatz Salsa getanzt. Ich wollte, dass da alle möglichen verschiedenen Leute zusammenkommen und Spaß haben. Ich meinte: Carsten, machen wir das wirklich? Und er: Ja, ziehs durch. Und da muss man sagen, er hat wirklich einen Arsch in der Hose gehabt, das auch zu vertreten. Das hat dann ne zeitlang gedauert. Mein Motto war, das Stadtfest ist ein Fest für alle Menschen, die in dieser Stadt leben. Meine allerliebste Veranstaltung ist, wenn die Leute vorne Pogo tanzen, und weiter hinten trinken die Alten ihr Weinchen und alle haben Spaß und verstehen sich. 

Das alles nebenbei zu deiner Karriere als Musiker?

Ja, darf man nicht vergessen, dass ich seit 22 Jahren bei Los Banditos spiele und wir haben teilweise 100 Konzerte im Jahr gehabt. 1993 ging es mit Party Killing los, 1996 war das vorbei, und dann bin ich bei Los Banditos in den Tourbus gestiegen und wir haben die nächsten zehn Jahre 100 Konzerte gemacht im Jahr. 

Kann ich dich ja endlich mal fragen, was es mit dem nackten Typ auf eurem Plakat auf sich hat. Meine Theorie war immer, dass das vielleicht jemand aus der Band ist?

Nee, wir haben in diesen frühen Konkret-Zeitschriften, wo es um sexuelle Befreiung ging, wunderschöne provozierende Bilder gefunden. 

Ich fand das cool, dass ihr mit dem Plakat auch mal ein anderes Bild von Männlichkeit transportiert, das war so Adam-und-Eva-mäßig, so unschuldig. 

Ja, hat was unschuldiges, was ehrliches. Ist am Strand und der hat auch noch so ne coole Hippiekette um, und zeigt halt sein Gemächt nicht, um zu zeigen, guck mal, was ich für ein tolles Gemächt hab, sondern er steht einfach nur so da. Wir haben immer mal wieder versucht, ein neues Plakat zu machen, aber wir konnten es einfach nicht toppen. 

Nach dem Abstecher ins Hardcore-Genre mit der Band Party Killing Service bist du mit den Los Banditos auch wieder ein kleines bisschen ruhiger geworden.

Party Killing war für mich ne unfassbar geile Band, weil das so ne Energie hatte. Das war so ne krasse Energie, die in die Musik floss, diese roughe Zeit in den 90ern. Diese Energie hatte ich mit keiner anderen Band je wieder. 

Von Airtramp zu Party Killing ist auf jeden Fall ein ganz schöner Sprung gewesen.

Ich hab ja auch ne Ausbildung als klassischer Sänger, hab zum Beispiel Solo gesungen in einem Gospelchor und danach mit Party Killing auf der Bühne durchgedreht. Ich liebe die Musik und die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, will mich da gar nicht immer so festlegen. Das entsteht immer, wenn man eine Verbindung zu anderen Menschen eingeht.

Warst du nach der Wende eigentlich noch ab und zu in der JG Stadtmitte?

Am 25.12.1989, an dem Tag, als Rumäniens Diktator Ceaușescu ermordet wurde, haben wir in der JG Stadtmitte mit Airtramp ein Reunion-Konzert gegeben. Aber nach der Wende begann dort die Ära Lothar König. Vorher war für mich eher eine Zeit, wo versucht wurde gleichberechtigt und gemeinsam zu entscheiden. So wie Lothar das dann durchgezogen hat, war kein Platz mehr für mich. So ging es vielen anderen von den alten JG-Leuten auch. Aber das ist nicht schlimm, ich bin ja auch weitergegangen. Trotzdem finde ich die Idee der JG Stadtmitte immer noch super, hat mich tief geprägt. Tommy Auerbach, Walter Schilling, Blase – das waren echte Helden für mich. Die haben so viel Liebe ausgestrahlt. Und Großzügigkeit. Es haben sich  ganz viele Leute gern in deren Nähe aufgehalten, ich auch. Und sie haben dieses ganze Konzept von der offenen Arbeit überhaupt erst entwickelt in den 1970ern. 

Dass die JG Stadtmitte eine große Rolle gespielt hat bei der Entstehung des Kassa, allein schon wegen der personellen Überschneidungen, ist klar. Aber als es das Kassa einmal gab, scheint die Beziehung irgendwie abzubrechen.

Das ist mir in dieser Stadt natürlich auch immer bissl auf den Keks gegangen, dass jeder kleine Verein sein Süppchen für sich kocht. Dass in so einer kleinen Stadt immer wieder Mauern aufgebaut werden und gesagt wird: Wir sind so und die sind so. Und dabei sind alle gar nicht so weit voneinander entfernt.


Christian Gesellmann
Christian Gesellmann | ©Martin Gommel

Christian Gesellmann: Das Kassa feierte letztes Jahr seinen 30. Geburtstag! Ein Jahr lang werde ich mich als Stadtschreiber mit den Menschen treffen, die diesen einzigartigen Verein und Club geprägt haben, und ihre Erinnerungen aufschreiben – und natürlich mit Ihnen/dir teilen, hier auf diesem Blog, auf Facebook und Instagram.

Welche Geschichten und Erinnerungen verbinden Sie/verbindest du mit dem Kassablanca? Haben Sie/ hast du noch irgendwo alte Fotos von Ihnen/dir und Ihren/deinen Freunden im Kassa? Ich freue mich auf Post an: allesgute@kassablanca.de

  1. Astrid Hofmann

    Ich habe jetzt zum ersten mal den Bericht gelesen.
    Ich bin die Schwester von Griseldis.
    Es stimmt nicht, das wir einer Roma Familie entstammen.
    Wir sind auch nicht abgeschoben worden, sondern regulär ausgereist als Familienzusammenführung.
    Unsere Mutter war aus Gelsenkirchen und alle Verwandten wohnten dort.
    Griseldis hat auch in Essen nicht in einer WG gelebt, sondern in einer 2er Beziehung.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .