Rückblick auf den Tag der Stadtgeschichte 2022
In den Kommunikations- und Kulturwissenschaften wird unter „Image“ ein soziales Konstrukt verstanden, das als die „Gesamtheit der Vorstellungen, Einstellungen und Gefühle“ definiert wird, die eine Person in Hinblick auf ein Objekt (Person, Organisation, Produkt, Idee, Ereignis) besitzt.[1] Images vermischen Wahres und Falsches, Rationales und Emotionales, Existentielles und Imaginäres. Mithin stellen solche Selbst- und Fremdbilder weder bloße Fiktion dar noch reine Propaganda.
In diesem Sinne betonte auch die kommunale Öffentlichkeitsarbeit in Jena immer stärker „das Einzigartige“ der Stadt, um das Heimat- und Gemeinschaftsgefühl unter den Einwohner:innen zu stärken. Spätestens seit Anfang des vorigen Jahrhunderts sollte auf diese Weise Jenas Ruf im überlokalen Maßstab verbessert oder einem Imageschaden durch negative Auswirkungen der beschleunigten Industrialisierung entgegengewirkt werden. Zu DDR-Zeiten nutzten die Image-Bildner hinter den Kulissen nicht zuletzt den „Tag der Republik“, um das Ansehen der Stadt in den Augen ihrer Bürger:innen und der breiten Öffentlichkeit zu heben.
Der 7. Oktober galt über 40 Jahre als einer der wichtigsten Feiertage im politischen Kalendarium der SED-Führung: der „Geburtstag“ der Deutschen Demokratischen Republik. Seit 1949 wurde dieser Jahrestag der Staatsgründung auf dieser Seite der deutsch-deutschen Grenze von Militärparaden, Aufmärschen, Fahnenapellen und Ansprachen begleitet, aber auch von feucht-fröhlichen Volksfesten. Das war am 7. Oktober 1986 in Jena nicht anders, zumal an diesem „Staatsfeiertag“ die Festwoche aus Anlass des 750-jährigen Stadtjubiläums ihren krönenden Abschluss fand. Im Rahmen eines großen historischen Festzugs zogen stundenlang geschmückte Fahrzeuge und kostümierte Laiendarsteller:innen durch die Jenaer Innenstadt.
Jena stand schon immer im Ruf, eine anziehende Universitätsstadt zu sein, in der sich’s „bene“ leben ließe. So lautet bekanntlich der Titel eines um 1850 entstandenen Studentenliedes. Diese heute noch populäre Textzeile bringt auf den Punkt, was Jenas Ansehen weit über Thüringens Grenzen hinaus begründete. Akademische, burschenschaftliche und städtische Festsitzungen auf dem Markt, „Jenas guter Stube“, besaßen hier eine lange Tradition. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts begannen enthusiastische Filmpioniere, solche festlichen Anlässe auf Zelluloid zu bannen – natürlich auch in Jena.
Heute eröffnen uns diese frühen „Gehversuche“ des Mediums Film einzigartige Einblicke in die Vergangenheit der Stadt. Sie verweisen auf zeitgenössische Stimmungslagen in den lokalen Milieus, die in der Öffentlichkeit „heiß“ diskutiert wurden, aber auch auf die politisch-kulturelle Instrumentalisierung solcher Stadtfeste. Zudem geben uns die Filmaufnahmen Auskunft über die zur jeweiligen Zeit vorherrschenden Selbstbilder der Stadt, ihr „Image“. War in der Frühmoderne noch von „Stadtpersönlichkeiten“ die Rede gewesen, so wie Goethe Jena als ein „närrisches Nest“ bezeichnete, deutete sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein Wandel in den symbolischen Selbstdarstellungen der Städte an.
Der Zwölfte Tag der Stadtgeschichte griff das Thema „Jena-Images“ auf. Die Veranstaltung fand am 8. Oktober 2022 im Plenarsaal des Rathauses am Markt statt. Das Publikum war eingeladen, die historischen Fest- und Feierkulturen der Stadt aus dem Blickwinkel der Foto- und Filmkamera zu betrachten. Die Formate der präsentierten Bewegt-Bilder reichten vom privaten Videomitschnitt bis zu professionell gestalteten Streifen, die Angehörige verschiedener Filmclubs produziert haben. Die meisten der eingespielten Filme sowie der für Erläuterungen und Kommentare herangezogenen historischen Fotos beziehen sich auf Straßenumzüge. Das größte öffentliche Interesse dürften dabei die Festzüge aus Anlass der beiden städtischen Jahrhundertfeiern 1936 und 1986 gefunden haben. Am Ende des Blogs werden sie anhand der überlieferten Filmquellen analysiert und miteinander verglichen.
Jenas Image als „alte Musenstadt“
Am 27. März 1912 wurde in der Jenaer Innenstadt einmal mehr ein studentischer Umzug veranstaltet. Die Aufbauten der Pferdewagen erinnerten an Theaterkulissen, wie uns Film 1 vor Augen führt. Bei diesem Streifen handelt es sich um die älteste uns bekannte Filmaufnahme von Jena. Das Fragment zoomt die auf den Umzugswagen mitgeführten Plakate heran. So werden Aussprüche erkennbar wie: „[…] Theaterneubau der Stadt Jena“, „Kunst-Tempel Schmiere“ und „Wer muss zahlen: Universität oder Bürgerschaft?“ [2] Offensichtlich zielte die studentische Posse auf die seinerzeit gängige Umschreibung Jenas als Musenstadt. Die Musen galten im antiken Griechenland als die Schutzgöttinnen der neun Künste und der Wissenschaft, sodass sich im 18. Jahrhundert für Studenten der Ausdruck Musensöhne einbürgerte. Dementsprechend wurde die Universität als Musenthron und eine Universitätsstadt wie Jena als Musenstadt bezeichnet. In ihren Spielszenen parodierten die verkleideten Verbindungsstudenten den Streit um die Finanzierung eines Theaterneubaus im Jenaer Gemeinderat. Sie meinten wohl, es sei dem kulturellen Selbstanspruch einer so traditionsreichen Universitätsstadt geschuldet, für den „Musentempel“ der Stadtgemeinde Opfer zu bringen.
Wie Jörg Opitz in seinem Artikel im Stadtmagazin 07 vermerkt, sorgte diese Filmquelle auf dem Tag der Stadtgeschichte 2022 für Rätselraten. Die Veranstalter gingen ursprünglich davon aus, dass der Film am letzten Tag des Jenaer SPD-Parteitages im September 1911 gedreht worden sei. Dank der Nachrecherchen von Andreas Klossek in der Lokalpresse konnte der Film nunmehr richtig datiert werden, wofür ihm an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei. Der neue Befund wird selbstverständlich auch in die Online-Version des historisch-topografischen Jena-Lexikons Eingang finden, die gegenwärtig erarbeitet wird.
Im späten Kaiserreich verliehen solche relativ häufigen Wagenkorsos und studentischen Fackelzüge der Stadt fraglos ein besonderes Ambiente. Das wurde von der Einwohnerschaft und den Gästen aus Nah und Fern als Ausdruck ihrer weithin ausstrahlenden geistig-kulturellen Anziehungskraft verstanden. In Anbetracht des maroden Stadttheaters stand die Gemeindeverwaltung allerdings vor dem Problem, Jena nicht wirklich überzeugend als „Kulturstadt“ inszenieren zu können. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Städtekonkurrenz mit Apolda, Rudolstadt und Weimar hielt sie daher auch in den Jahren der Weimarer Republik am Image der „alten Musenstadt“ fest. Allerdings erfuhr diese ältere Zuschreibung eine Ergänzung, da auch das Selbstbild einer Universitätsstadt im Grünen mit dem Jenaer Paradies als Glanzpunkt hoch im Kurs stand.[3] Außerdem wurde das traditionelle Bild der Musenstadt mit einem kulturkritischen Seitenhieb der voranschreitenden Hochindustrialisierung angepasst, indem Mitte der 1920er Jahre von einem „zurzeit unausgeglichenen Doppelgebilde“ aus idyllischer Dichter-, Gelehrten- und rasch emporwachsender Industriestadt die Rede war.[4]
Nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich unter den Mittel- und Großstädten der Wettbewerb um die Ansiedlung von Großunternehmen der forschungsintensiven Industriezweige Elektrotechnik/Elektronik, Feinmechanik und Optik, Chemie und Maschinenbau. Immer größere Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang das Stadtmarketing in der überregionalen Presse und Publizistik, aber auch in den jüngeren Massenmedien Film und Rundfunk. Um ein Gemeinwesen wie Jena im hart umkämpften Geschäftsfeld des Fremdenverkehrs erfolgreich vermarkten zu können, musste die Saalestadt in der öffentlichen Meinung mittels positiver Selbstbilder und professioneller Publicity als Arbeits-, Kultur- und Lebensraum aufgewertet werden. Daran hatte der Publizist und Goethe-Kenner Gustav Mohr maßgeblich Anteil.
Mohr stellte eine Gedicht- und Prosa-Sammlung mit Jena-Zitaten der weltbekannten Dichterfürsten Goethe und Schiller sowie von weiteren Personen von Rang wie Bismarck, Haeckel und Abbe zusammen. Diese Veröffentlichung bediente im Untertitel das altbekannte Image „Die Musenstadt im Saaltal(e)“ und stilisierte das beschauliche Jena zu einem Anziehungspunkt deutscher Geistesgrößen, was auch eine Spitze gegen die Großstadtkultur der Moderne aufwies. Die Broschüre erschien 1926 in zwei Auflagen und wurde vom Verkehrsverein Jena e. V. herausgegeben.[5] In enger Abstimmung mit der Stadtverwaltung eröffnete der Verein ein Marketingbüro, in dem nach 1919 eine gezielte Imagepolitik betrieben wurde, um die Goethe- und Schillerstätten der Stadt und deren landschaftlich reizvolle Lage europaweit zu popularisieren. Dieses Verkehrsbüro residierte zunächst in der Stadthaus-Passage am Löbdergraben 13, danach unmittelbar neben dem Rathaus am Markt.
Die 700-Jahrfeier 1936
Im Mai 1933 konnte der Jenaer NSDAP-Kreisleiter Armin Schmidt mit Hilfe zwielichtiger Winkelzüge und des von SA-Mitgliedern aufgestachelten „Volkszorns“ auch das Amt des Jenaer Oberbürgermeisters übernehmen. 1934 unterstellte er sich das neu gegründete Städtische Kulturamt, im gleichen Jahr riss er den Vorsitz im Fremdenverkehrsverein Jena e. V. an sich. Hatte sein Amtsvorgänger Alexander Elsner 1927 noch von einer „modernen Industriestadt“ und mit Blick auf die Universität von einer „Hochburg der Wissenschaft“ gesprochen, charakterisierte Schmidt Jena in seinem Vorwort für die Festzeitung zur 700-Jahr-Feier wieder als eine „alte Musenstadt“.[6] Jenas Traditionen würden vornehmlich im „Geistigen“ liegen, führte der Oberbürgermeister 1936 zur Begründung an. Im kommunalen Stadtmarketing wurde also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Kontinuität gewahrt, trotz des Regimewechsels von 1933/34.
Demgegenüber verbreiteten vergleichbare Boom-Städte der Aufrüstung wie Dessau und Rostock nach 1933 das Selbstbild, Stätten „deutscher Wertarbeit“ zu sein, die unter Hitlers Führung regelrecht aufgeblüht seien. Dem entsprach, dass sich in der lokalen Festkultur Mitte der 1930er Jahre reichsweit eine doppelbödige Mischung aus Volksvergnügen, spannenden Sportwettkämpfen und der Faszination für neue Technik etablierte. Wenn überhaupt, konnten das in Jena nur die alljährlichen Paradiesfeste, die Jubiläumsfestwoche 1936 und die Gemeinschaftsfeiern in den beiden Stiftungsunternehmen Zeiss und Schott bieten. Im Programm der 700-Jahr-Feier dominierten allerdings Bezugnahmen auf die ältere Geschichte Jenas, vor allem auf das späte Mittelalter, die Epoche der Reformation und Gegenreformation und auf das „lange“ 19. Jahrhundert, jedenfalls nicht auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.
So stand der historische Festzug zum Stadtjubiläum 1936 unter dem Motto „Jena im Wandel der Jahrhunderte“. Ihm schritt die Figur des Herolds „chronologus jenensis“ voran, der ein Schild mit der Jahreszahl „1236“ trug. Folgerichtig erweckte das auf Bild 2 abgelichtete Schmuckwappen entlang der Marschroute des Zuges bei Umstehenden den Eindruck, die Herren von Lobdeburg hätten Jena in diesem Jahr die Privilegien einer Stadt verliehen. Offenbar unterlagen die NS-Kulturaktivisten bei der Organisation des Jubiläums den Zwängen der runden Zahl. Denn vordem war ihnen von namhaften Archivaren und Historiker:innen mehrmals versichert worden, dass sich für das Jahr 1236 weder eine „Erhebung“ zur Stadt, in welcher Form auch immer, noch die Ersterwähnung Jenas als Stadt urkundlich nachweisen ließe. [7]
Die Bildunterschrift „Jena. 700 Jahre Stadt“ erscheint allerdings in Anbetracht des seinerzeitigen Forschungsstandes durchaus nachvollziehbar. In der Stadtgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts besagte diese Einordnung, dass sich die weitaus ältere Ansiedlung gleichen Namens „um 1236“ zu einem städtischen Gemeinwesen entwickelt habe. Im Licht jüngerer Befunde des Grabungsteams um den Jenaer Stadtarchäologen Dr. Matthias Rupp stellt sich die frühe Stadtgeschichte Jenas derzeit folgendermaßen dar: Der am Mittellauf der Saale seit Langem bestehende Marktflecken begann bereits um 1200 die Züge einer mittelalterlichen Planstadt anzunehmen, die sich aber infolge einer Brandkatastrophe wohl erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vollends ausprägen konnten. [8]
Bild 3 zeigt ein phantasievolles Modell der seinerzeit bekannten drei Burgen auf dem Hausberg bei Jena. Thematisch repräsentierte die Wagengruppe 4 im Festzug „Die Burgen Greifberg, Kirchberg und Windberg vor der Zerstörung“. Tatsächlich erstürmte 1304 ein bewaffnetes Aufgebot unter Führung der Handelsstadt Erfurt die Raubritternester auf dem Hausberg. Deshalb ist auf einen Schild das Wappen des Erzbischofs von Mainz zu erkennen, dem zu Beginn des 14. Jahrhunderts auch Erfurt unterstand. Daneben unterstreicht diese Fotografie die enorme Resonanz des Stadtjubiläums unter der städtischen Einwohnerschaft und ihren Gästen. Im Hintergrund kündigt sich das Herannahen der Gruppe 5 an, die sich laut der gedruckten Festzugsfolge auf das Jahr 1350 und den „Plan zur Ummauerung der Stadt“ bezog. Ihr folgte die Festzugsgruppe 6, die im Jahrhundertreigen das Jahr 1360 symbolisierte und „Jena als feste Stadt“ veranschaulichen sollte. Als Cheforganisator des Festzugs hatte der Jenaer Polizeipräsident die Ausstattung der Wagengruppe 4 der Fa. Carl Zeiss übertragen. Die Kosten bezifferten sich auf 1.800 ReichsMark. Die mitlaufenden „Landsknechte“ verkörperten Angehörige der Deutschen Arbeitsfront dieses Unternehmens, das auch das Pferdegespann und den Festwagen mit Deichsel stellen musste.
Auf der folgenden Fotografie posiert ohne Zweifel ein Jenaer Original, Walter Lange, der Wirt des Historischen Gasthofs „Der grüne Baum zur Nachtigall“. Als weithin bekannter „Napoleon auf Cospeda“ ahmte er den Kaiser der Franzosen wie kein Zweiter nach. Lange avancierte frühzeitig zu einem Markenzeichen des Jenaer Stadtmarketings, um den Fremdenverkehr zu beleben. Er hatte bereits 1934 im Festzug aus Anlass des Paradiesfestes mitgewirkt, das nach einer zwanzigjährigen Unterbrechung in diesem Jahr erstmals wieder durchgeführt wurde. Werbewirksam zeigten Postkarten Lange in seiner Paraderolle beim Ritt durch die Gassen der Altstadt. Auf ihnen war links von ihm ein weiterer Reiter zu erkennen, der die Figur Roustam Raza verkörperte, den langjährigen Diener und Leibwächter Napoleons I. Er wurde in herabsetzender Weise mit schwarzer Schuhcreme eingeschmiert und als „Mohr“ verfremdet, wie Bild 4 dokumentiert. In Wirklichkeit stammte dieser Mameluck nicht aus Afrika, sondern aus dem armenisch-georgischen Sprachraum.
Bild 5 wurde gegenüber der Ecke Adolf-Hitler-Straße/Paulinenstraße aufgenommen, d. h. am heutigen Spittelplatz. Die Paulinenstraße war nach der Erbgroßherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach benannt worden. An den Fassaden der Häuser sind eine ganze Reihe Hakenkreuzfahnen zu sehen, die im Frühjahr 1935 per Gesetz zur Staatsflagge des Deutschen Reiches erhoben worden war. Viele Wohnungsfenster wiesen indes keinen Fahnenschmuck auf. Daneben sind auf dieser Fotografie nur zwei schwarz-weiß-rote Reichsflaggen der Hohenzollern-Monarchie bzw. der ehemaligen „Deutschnationalen Front“ auszumachen. In den Jahren 1933/34 hatten sie das Stadtbild an den Staatsfeiertagen des neuen Regimes noch wesentlich stärker bestimmt.
Während in den Geschichtserzählungen des Festzugs Mittelalterthemen einen der Schwerpunkte bildete und die Universität mit der Professoren- und Studentenschaft darin nur eine Nebenrolle spielten, vermittelt uns die Kamera in Film 2 eher einen Querschnitt der dargestellten historischen Episoden. So fängt die letzte Einstellung des privat aufgenommenen Films auch den symbolträchtigen Vorbeimarsch von Nazi- und Ehrenformationen der Wehrmacht zum Abschluss des Festzugs ein. Den Ausgangspunkt seiner Marschroute über den Markt zur Rasenmühleninsel bildete die Adolf-Hitler-schule, die heutige Grundschule in der Dornburger Straße. Dort erfolgte zudem die Aus- und Rückgabe der Kostüme. In der Nähe dieser schule befand sich auch der Standort des Hobbyfilmers.
Besonders bemerkenswert sind diese Details des Films:
- (00:00:59) Die Handwerker-Innungen präsentierten sich im Festzug allein mit neun Gruppen bzw. Wagen. Sie wurden in Jena ab Mitte des 14. Jahrhunderts gegründet und übten fast ein halbes Jahrtausend großen Einfluss in der Stadtgemeinde aus. Innungsmeister waren an der Rechnungslegung des Stadtkämmerers beteiligt, in den rotierenden Stadträten vertreten und stellten sogar Bürgermeister.
- (00:01:31) Unter den von Laiendarsteller:innen verkörperten Monarchen und Staatsmännern befand sich auch König Friedrich II. von Preußen, der während des Siebenjährigen Krieges am 2. Dezember 1762 mit seinem Tross im Haus der Familie Kreußler übernachtet haben soll.
Alles in allem unterschied sich die Dramaturgie des Jenaer Festzuges 1936 augenfällig von der des Umzugs aus Anlass der 700-Jahr-Feier der Stadt Gera im Jahr darauf, wie Jörg Opitz auf dem Tag der Stadtgeschichte resümierte. [9] Gera präsentierte sich als eine aufstrebende „deutsche“ Industriestadt mit modernen Gebäudekomplexen und vielfältigen Gewerbeeinrichtungen. In Jena wurde die Industriemoderne in der Festzugsfolge hingegen weitgehend übergangen. Sie sei gerade in dieser Stadt von einem „jüdisch-liberalistisch“ geprägten Wirtschaftsbürgertum beherrscht worden, behauptete die Nazi-Clique um Oberbürgermeister Schmidt.
Das neue Image „Sportstadt“
Generell vermochte das kommunale Stadtmarketing in der Zwischenkriegszeit nicht ansatzweise so populäre Vorstellungsbilder von Jena hervorzubringen und zu verbreiten wie die zahlreichen Vereine vor Ort. Pressemedien wie das Jenaer Sportblatt trugen als Beilage zum viel gelesenen Jenaer Volksblatt „außerordentlich viel dazu bei, den Sport in der breiteren Öffentlichkeit in das richtige Licht zu stellen.“ Diese Bewertung zitiert einen Artikel über Die Sportstadt Jena, der am 23. August 1921 in der Mitteldeutschen Sportzeitung ohne Verfasserangabe erschien. Darin ergriff ein(e) Insider(in) der örtlichen Sportszene die Gelegenheit, die Delegierten des Verbandes Mitteldeutscher Ballspielvereine auf den Ort ihrer bevorstehenden Jahrestagung einzustimmen. Der „Ruhm unserer Stadt“ schließe ihren Ruf als Sportstadt ein, lautete eine der Feststellungen im Text. In Jena seien „Großtaten des Sports“ vollbracht worden, wie sie andere Städte vergleichbarer Größe nicht aufweisen könnten. [10]
Mit besonderem Stolz verwiesen die Jenaer Verbands- und ehrenamtlichen Vereinsfunktionäre auf die überregionalen Erfolge der Leichtathlet:innen und Feldhockeyspieler:innen. Auf nationale Meisterehren konnten die Fußballer des 1. Sportvereins Jena (SVJ) zwar nicht verweisen. Immerhin errangen sie im Spieljahr 1936 die Meisterschale in der Gauliga Mitte. Zum Auftakt der Jubiläumsfestwoche konnte die Elf des 1. SVJ sogar ein Fußballspiel gegen den FC Bayern München vereinbaren. Die Münchener stellten im Kader der deutschen Olympiamannschaft immerhin drei Spieler, die zu dieser Zeit schon generalstabsmäßig auf die Sommerspiele vorbereitet wurden. Umso größer war die Freude der Jenaer Kicker über ihren Triumph, da sie das Match 6 zu 3 gewannen. Auf Bild 6 wird uns ein Teil der Siegermannschaft vorgestellt sowie Hugo Schrade als leitender Angestellter der Zeiss-Werke, die zu diesem Zeitpunkt noch zu den Hauptförderern des Fußballsports am Fuße der Kernberge zählten. Er war 1929 in die Personalabteilung der Fa. Carl Zeiss eingetreten und hat mehrere Jahre eng mit dem Konzernchef August Kotthaus zusammengearbeitet. Schrade rückte im Sommer 1945 in den Unternehmensvorstand auf und fungierte bis 1966 als Werkleiter des Volkseigenen Betriebes, zuletzt im Range eines Generaldirektors.
Jena im Olympiasommer 1936
Nur wenige Wochen nach der 700-Jahr-Feier Jenas fanden die XI. Olympischen Sommerspiele statt. Im Vorfeld dieses weltweit beachteten Ereignisses hatte der Jenaer Oberbürgermeister vorgeschlagen, die Festwoche zum Stadtjubiläum in die zentrale Olympia-Werbung des Deutschen Reiches aufzunehmen. Tatsächlich machte der sogenannte „Olympia-Zug“ vom 27. bis 29. Juni 1936 in der Saalestadt Station. Es handelte sich um vier Fünf-Tonnen-Zugmaschinen von Mercedes, die mit jeweils zwei Anhängern auf Tour waren. Die Lastkraftwagen wurden wie eine „Wagenburg“ im Viereck zusammengestellt, wodurch ein zeltüberdachter Kinoraum entstand, der sich als ein Publikumsmagnet erwies. [11] Der „Olympia-Zug“ sollte im ganzen Reich Vorfreude auf die Olympischen Spiele wecken. Seit dem 1. September 1935 war er bereits in über 100 Städten im Reich zu Gast gewesen, darunter nur in einer Stadt mittlerer Größe, nämlich Jena. Das sprach für deren gewachsenes Ansehen als „Sportstadt“. Bild 7 dokumentiert die Teilnahme des 400 m-Läufers Rudolf Klupsch an den olympischen Wettkämpfen. Er erreichte in seiner Paradedisziplin den Zwischenlauf und galt als der erfolgreichste Jenaer Sportler jener Jahre.
Nördlich von Berlin hatte die Wehrmacht das Olympische Dorf errichtet. Neben anderen Thüringer Städten fungierte auch die Stadt Jena als Namensgeberin für eine der Mannschaftsunterkünfte. Im „Haus Jena“ gestalteten junge Künstler:innen der Vereinigten Staatschule in Berlin ein großformatiges Historiengemälde, das den Titel „Jena im 17. Jahrhundert“ trug. Welches Fremdbild von der Stadt mag ihnen bei dieser Marketing-Aktion Mitte der 1930er Jahre vor Augen gestanden haben? Bild 8 zeigt eine Abbildung des Wandgemäldes, das eine massiv befestigte Stadt mit vier Haupttoren in den Mittelpunkt stellt, obgleich Jena zu den Gemeinwesen gehörte, die nur über drei Stadttore verfügten. Auf den Bergeshöhen im Hintergrund türmen sich mehrere Burgen auf. Vermutlich ließ sich der Malernachwuchs von der Vorlage Johann Mellingers aus dem späten 16. Jahrhundert und recht stereotypen Vorstellungen über die „deutsche“ Stadt in der Frühen Neuzeit leiten, weniger von gesichertem Wissen.
Das Werk- und Sportfest der Unternehmen Zeiss und Schott 1939
Drei Jahre nach dem Olympiasommer rückten die Sportanlagen in der Oberaue in den Blickpunkt der Sportstadt Jena. Das bereits 1924 mit Unterstützung der Carl-Zeiss-Stiftung und namentlich der Vorstandsmitglieder Max Fischer und Otto Schott errichtete Stadion des 1. SVJ wurde fünfzehn Jahre später nach erneuten Um- und Erweiterungsbauten in Ernst-Abbe-Sportfeld umbenannt. [12] Die Stadionweihe erfolgte am 26. August 1939. Aus diesem Anlass trugen die beiden Stiftungsunternehmen Zeiss und Schott ihr Betriebsfest erstmals gemeinsam aus, was die Zeiss-Werkszeitung Ende 1939 mit einer Sonderausgabe würdigte. Demnach bildete diese Veranstaltung den Abschluss und Höhepunkt einer Festwoche zum 50-jährigen Gründungsjubiläum der Carl-Zeiss-Stiftung.
Anlässlich dieses großen Werks- und Sportfestes wurde die Gegentribüne im Ernst-Abbe-Sportfeld dem Reichsparteitagsgelände der NSDAP in Nürnberg nachempfunden, worauf das Jenaer Volksblatt vom 28. August 1939 anspielte, wenn es angesichts der gewaltigen Hakenkreuzbanner von einer „Zeppelinwiese“ in der Oberaue sprach.
Das Fest suchte eine ganze Reihe hochrangiger Rüstungsmanager und Nazipolitiker auf, die auf der Ehrentribüne Platz nahmen. Bild 11 zeigt drei Mitglieder des Zeiss-Vorstandes, die Geschäftsleiter Paul Henrichs, August Kotthaus und Walther Bauersfeld, daneben den seinerzeitigen Gauwirtschaftsberater der NSDAP Thüringen, Walther Schieber, der zugleich dem Freundeskreis des Reichsführers SS angehörte. Schieber vertrat den „Stiftungsführer“ und Reichsstatthalter in Thüringen, Fritz Sauckel, der sich zu dieser Stunde bereits im engsten Führungskreis um Hitler aufhielt. Die letzte Phase der streng geheimen Vorbereitung des Angriffskrieges gegen Polen hatte begonnen. Außerdem sind auf dieser Fotografie Paul Müller in seiner Funktion als Bereichsleiter der NSDAP Jena/Stadtroda und der Stiftungskommissar der Carl-Zeiss-Stiftung, Abraham Esau, zu sehen. Esau war ein Radiopionier der UKW-Technik und Ordinarius für technische Physik an der Universität Jena. Er übernahm in der Nazizeit zwei Mal das Amt des Rektors der Friedrich-Schiller-Universität Jena und gehörte der mennonitischen Glaubensgemeinschaft an, eine der ältesten evangelischen Freikirchen. Die Wahl seines Vornamens knüpfte also an der christlichen Tradition des Alten Testaments an.
Das Stiftungsfest der beiden Werke wurde an diesem Samstag von einem Sportfest der Betriebssportgemeinschaften von Zeiss und Schott umrahmt. Offizielle Ausrichter waren die Nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ und der Nationalsozialistische Reichsbund für Leibesübungen. Bild 12 hält den Moment des Eröffnungsappells fest, wobei die jungen Männer rituell mit freiem Oberkörper antreten mussten. Bild 13 zeigt Sportlerinnen des Bundes Deutscher Mädel in der Hitler-Jugend und des NS-Reichsbundes für Leibesübungen, die ebenfalls am Sportfest teilnahmen. Das Werk- und Sportfest wurde mit einem großen Zapfenstreich militärisch beendet und fand nach Einbruch der Dunkelheit mit einem bizarren Feuerwerk am Nachthimmel seinen Abschluss.
Film 3 vermittelt einige Momentaufnahmen vom Geschehen in und am Stadion, wenige Tage vor der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Deshalb wirkt irritierend, wie nah scheinbar Gegensätzliches beieinander lag. Das krasse Nebeneinander von militärischem Befehlsgebaren und Strammstehen einerseits und ausgelassener Unterhaltung auf dem Rummelplatz und bei der Vorführung im Puppentheater andererseits erscheint uns unwirklich, war aber für die angetretenen Werksangehörigen während der 1930er Jahre durch die fortwährenden Übungen des Werkluftschutzbundes und Reichsarbeitsdienstes zum Alltag geworden. Dennoch lässt der Film ohne Tonspur nur erahnen, dass Deutschland an der Schwelle zu einem Krieg stand. Wie brüchig der Frieden inzwischen geworden war, klang aber in den Festreden unüberhörbar an, besonders in den Ansprachen des Wirtschaftsmanagers und sogenannten „Arisierungsbeauftragten“ für Thüringen, Walther Schieber, des Nazi-Kreisleiters Paul Müller und des Unternehmensvorstandes Erich Schott. Müller rief nach der Siegerehrung den Anwesenden zu: „Wir haben es nicht nötig vor der Welt als Habenichte zu stehen – beengt und abhängig – sondern wir haben das Recht – und das beweist auch euer mächtiger Betrieb, auf diesem Erdenball das zu besitzen, was einem großen Volke gehört. Und in dieser Stunde grüßen wir den Führer, an den wir glauben und dem wir folgen, wohin er immer befiehlt.“ [13]
Jena als „ZEISS- und Universitätsstadt“
Der Jenaer Oberbürgermeister Walter Windrich ließ es sich zum 20. Jahrestag der DDR im Jahre 1969 nicht nehmen, der „Bürgergemeinschaft“ Jenas im Namen der Stadtverordnetenversammlung, des Rates der Stadt Jena und in seinem eigenen Namen herzlichst zu gratulieren. Die ausgesprochen gestelzt wirkenden „Grüße und Glückwünsche“ Windrichs sind seinem Grußwort zu entnehmen, das in der Broschüre „Die Zeiss- und Universitätsstadt Jena im 20. Jahr der DDR“ veröffentlicht wurde. Die letzten 20 Jahre seien Ausdruck des sichtbaren Aufblühens der Zeiss- und Universitätsstadt gewesen, fügte der Oberbürgermeister an, womit er das neue Image der Saalestadt propagierte. [14] Bis 1967 hatte Windrich sachlicher von der „sozialistischen Stadt der Wissenschaft und Technik“ oder der „Stadt des wissenschaftlichen Gerätebaus“ gesprochen. Der umfassende Ausbau und die verfahrenstechnische Modernisierung des VEB Carl Zeiss Jena bildete den Hintergrund der veränderten Zuschreibung. Diese gewaltigen Investitionsvorhaben waren von der Kombinatsleitung mit Nachdruck gefordert worden, um die Exportaufträge der Sowjetunion erfüllen zu können. Sie sahen ursprünglich auch eine großflächige Überbauung der gesamten Innenstadt vor. Diese Pläne wurden zwar nur ansatzweise realisiert, schlugen aber der Altstadt eine noch tiefere Wunde, da das Quartier um den Eichplatz abgerissen wurde.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ordnete das SED-Politbüro unter Erich Honecker an, die Mikroelektronikindustrie der DDR de facto im Alleingang bis 1991 auf das Technologieniveau 6 zu heben. Das bedeutete, innerhalb von fünf Jahren den Rückstand zum Entwicklungsniveau auf dem Weltmarkt nahezu vollständig aufholen zu wollen. Der wissenschaftliche, volkswirtschaftliche und nicht zuletzt auch der Image bildende Stellenwert der „Schlüsseltechnologie“ Mikroelektronik [15] überragte zu dieser Zeit die Bedeutung aller anderen Hochtechnologien bei Weitem. Das Kombinat VEB Carl Zeiss Jena sollte durch Umstrukturierungen und die Übernahme mehrerer Hightech-Betriebe in Dresden und Erfurt zu einem „Zentrum der Hochtechnologien“ (um)profiliert werden. Es umfasste im Herbst 1986 bereits 24 Betriebe mit ca. 69.000 Arbeiter:innen, Wissenschaftler:innen und Angestellten, von denen jede bzw. jeder vierte über einen Hoch- oder Fachschulabschluss verfügte, fast ebenso viele gehörten der SED an. Honecker suchte unmittelbar nach dem XI. Parteitag der SED am 23. Mai 1986 die Zeiss-Kombinatsleitung in Lichtenhain auf, um persönlich mit dem Generaldirektor Wolfgang Biermann über den neuen Kurs der SED-Führung zu sprechen, der einer Quadratur des Kreises gleichkam. [16]
Jenas 750-Jahr-Feier 1986
Im gleichen Jahr beging Jena das 750-jährige Stadtjubiläum, das mit der „würdigen Durchführung des 37. Jahrestages der Gründung der DDR“ am 7. Oktober seinen Abschluss finden sollte. So sah es jedenfalls eine Konzeption vor, die ein Jahr zuvor von einem Festkomitee unter Vorsitz des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung ausgearbeitet worden war. Dem Komitee gehörten 68 SED-Funktionäre und leitende Angestellte diverser Verwaltungen und der Universität an. Wie in anderen ostdeutschen Städten blieb die Vorbereitung der Jenaer Jahrhundertfeier auf die größten Industriebetriebe und Forschungseinrichtungen der Stadt fixiert, während die lokale Geschichte als integrativer Faktor in den Augen der Parteifunktionäre an Bedeutung verlor. Zum einen resultierte dieser Trend natürlich aus dem skizzierten Image als Hightech-Standort. Zum anderen wirkten auch die hohen Erwartungen der Jenaer:innen auf die Organisatoren der Festwoche im Machtapparat zurück. Viele „Werktätige“ sahen in ihrem Betrieb mehr als eine Arbeitsstelle zum Broterwerb. In der Regel betrachteten sie ihn als ihren Lebensmittelpunkt, als Ort der sozialen Kommunikation, des Zugangs zu hochwertigen Konsumartikeln und der Teilhabe an geselliger Kultur.
Film 4 verdeutlicht, dass es für die Drehbuchautoren des historischen Festzugs eine ausgemachte Sache war, die Darstellergruppen aus dem Zeiss-Kombinat an der Spitze marschieren zu lassen. Gleich „Fackelträgern des Fortschritts“ trugen Betriebsangehörige das Frontbanner mit der Aufschrift „Der Beschluß der Partei – unsere Tat zur Umsetzung der neuen Schlüsseltechnologie“. Auf ihm wurden gerätetechnische Anwendungen von Software-Programmen für Computer und Werkzeugmaschinen aufgezählt, und zwar so, als seien sie schon in die Massenfertigung überführt worden. Die Botschaft auf diesem Spruchband symbolisierte aber auch einen markanten Unterschied zu den Geschichtsnarrativen des Festzugs zur 700-Jahr-Feier. 1936 herrschte eine rückschauende Perspektive vor, die sich auf einen „mythischen Raum“ [17] der Vergangenheit ausrichtete. Dagegen dominierte 1986 ein ungebrochenes Zukunftsvertrauen in das „wissenschaftlich-schöpferische“ Innovationsvermögen der „Zeiss- und Universitätsstadt“, sodass der Festzug fünfzig Jahre später eher einer „Leistungsschau der guten Taten“ als einer bündigen historischen Erzählung glich. Beiden Inszenierungen gemein war der Versuch, durch aufwändig gestaltete Gruppenbilder historische Authentizität zu suggerieren, aber auch die ungeheure Begeisterung unter den vielen freiwilligen Helfer:innen. Schlüpften sie in ihre Kostüme, sahen sie sich in längst vergangene Zeiten zurückversetzt.
Die Vorbereitung der Festwoche stand von Anfang an unter hohem Zeitdruck. Sie nahm phasenweise chaotische Züge an, zumal die Stelle des Organisationschefs aufgrund interner Querelen über Wochen vakant blieb. Im Vorfeld früherer Jubiläumsfeiern wurden in der Regel Ortschroniken oder zumindest Festzeitungen herausgegeben. Dagegen konnte die vom Jenaer Festkomitee ursprünglich vorgesehene Festschrift nicht erscheinen. Der stellvertretende Stadtrat für Kultur beim Rat der Stadt meldete seinem Führungsoffizier des Staatssicherheitsdienstes, es sei ein „vollkommen ungeeigneter Mitarbeiter“ der Stadtverwaltung damit beauftragt worden, während die Fachleute in seiner Abteilung Kultur oder an der Sektion Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität nicht berücksichtigt würden. [18]
Am 7. Oktober 1986 mischte sich auch Gerhard Reuter unter die Besuchermassen und fotografierte eine ganze Reihe der Darstellergruppen und Festzugswagen. Die Kamera erfasste vor allem jene, die dem Fotografen besonders ansprechend erschienen. Die folgende kleine Auswahl seiner Schnappschüsse entstammt einer umfangreichen Farb-Dia-Reihe, die dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ übergeben wurde. Sie vermittelt einen Eindruck von der Dimension und Ausstattung des Umzugs sowie vom hohen Schauwert bestimmter Gruppenbilder und nicht zuletzt von der Interaktion der Laiendarsteller:innen mit den Schaulustigen auf den Straßen.
Die Gesamtkosten dieses Festumzugs sollen sich auf 2,2 Millionen Mark der DDR belaufen haben. Allein das Deutsche Nationaltheater Weimar stellte den Veranstaltern 40.000 Mark für entliehene Requisiten und Gegenstände zur Ausrüstung der Festwagen in Rechnung. [19]
Film 5 eröffnet uns wieder eine private Sicht auf die Fülle von Veranstaltungen am letzten Tag der 750-Jahr-Feier. Die Amateuraufnahmen von Günter Rödiger sind in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen belegen sie das vergleichsweise breite Angebot von Verkaufs-, Bratwurst-, und Marktständen, das die „Wein-Tanne“, das Café „Treff“, das Jenaer Kaffeehaus und die Professorenmensa „Zur Rosen“ noch bereicherten. Ausnahmsweise durften an diesem Feiertag sogar Straßenmusikanten in der Innenstadt aufspielen. Dieser Film enthält zudem seltene Bilder vom Volksfest auf dem Markt in Neulobeda-West, so von den Auftritten verschiedener Musikbands und von einer heute antiquiert erscheinenden Modenschau des VEB Jugendmode, die seinerzeit indes durchaus Interesse fand. Zum anderen filmte Günter Rödiger bestimmte Darstellergruppen mit ihren Fahrzeugen im historischen Festzug. Dabei fällt auf, dass die Kamera nur die Gruppenthemen einfing, die sich auf ältere Jahrhunderte bezogen, nach dem Vehikel der Gruppe „Rote Matrosen“ 1918 bricht die Überlieferung ab.
Die Attraktivität der 750-Jahr-Feier resultierte für die Bürger:innen der Stadt nicht nur aus den verlockenden Angeboten für das leibliche Wohl, die zweifellos nicht jeden Tag von der staatlichen Handelsorganisation HO offeriert werden konnten. Auch die vertraute Umgebung der Jenaer Innenstadt vermittelte ihnen das Gefühl, an einem ganz besonderen Fest ihrer Heimatstadt teilzuhaben, das aus dem üblichen Rahmen der parteipolitischen und staatlichen Feiertage fiel. Insofern schließen wir uns der Einschätzung der Kulturhistorikerin Adelheid von Saldern an, die von einer „doppelten Einstellung“ vieler Menschen gegenüber dem SED-Regime ausging. Vermutlich wäre auch in Jena an diesem Tag bei den meisten Anwesenden eine Mischung aus „Distanzieren und Mitmachen“ [20] bzw. aus Abgrenzung und individueller Aneignung zu beobachten gewesen. In dieser Gleichzeitigkeit drückte sich die Ambivalenz solcher Massenveranstaltungen aus, die von den lokalen SED- und MfS-Apparaten gesteuert bzw. überwacht wurden und zugleich den Charakter eines Volksfestes annehmen konnten.
Einen ganz anderen Blick auf die 750-Jahr-Feier bietet Film 6, nämlich in der Form einer Persiflage. Den Super-8-Film nahm die Hinterhofproduction Jena auf, also Thomas „Kaktus“ Grund. Neben Sequenzen aus einigen Veranstaltungen zur 750-Jahr-Feier sind auch Mitstreiter:innen der Jungen Gemeinde Stadtmitte zu sehen, die stumm und teilnahmslos das Massenspektakel beobachten und auf diese Weise verulken.
Zusammenfassend verdeutlichen die vorgestellten Jena-Images, dass sich lokale Selbstbilder zwar niemals vollständig von den jeweiligen Realitäten ablösen können. Insofern weist die städtische Imagepolitik einen markanten Unterschied zur offenen Propaganda auf. Doch mit Hilfe der skizzierten Images wurden im vergangenen Jahrhundert latent soziale Gegensätze geglättet, wirtschaftliche Konflikte ausgeblendet oder der Öffentlichkeit nur in höchst selektiver Weise präsentiert. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, künftig aus dem Zusammenspiel von künstlerischer und ökonomischer Innovationskraft, von kultureller Heterogenität, Kreativität und Gemeinschaftsentwicklung zukunftsfähige Images der Stadt Jena abzuleiten. [21]
Wir danken unserem Stadthistoriker Dr. Rüdiger Stutz vielmals für diesen umfassenden Rückblick auf den Tag der Stadtgeschichte 2022, und den Blick zurück in die Stadtgeschichte Jenas und ihre Selbst- und Fremdbilder!
Welcher Aspekt unserer Rückschau auf die „Jena-Images“ hat Sie besonders interessiert, vielleicht sogar überrascht oder irritiert? Gibt es ein Thema der Jenaer Stadtgeschichte, zu dem Sie sich einmal einen Beitrag wünschen würden? Wir lesen es gern in den Kommentaren!
Der nächste, 13. Tag der Stadtgeschichte Jena findet voraussichtlich am 8. Juni 2024 statt, also markieren Sie sich dieses Datum schon einmal im Kalender, liebe Leser:innen!
[1] Daniela Münkel/Lu Seegers: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutschland, Europa, USA, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 11. [zurück]
[2] Zitiert nach Jörg Opitz: SPD-Parteitag oder Theaterneubau? In: 07 Das Stadtmagazin, Februar 2023, S. 12. [zurück]
[3] Vgl. Doris Weilandt: Das Jenaer Paradies, Jena (2017), S. 24-28. [zurück]
[4] Jena. Die Universitätsstadt. Herausgegeben vom Verkehrsverein Jena, Jena (1926), S. 16. [zurück]
[5] Jena. Die Musenstadt im Saaltal. Herausgegeben vom Verkehrsverein Jena, Jena 1926. [zurück]
[6] Alexander Elsner: Die Stadt Jena, in: Zeitschrift für Kommunalwirtschaft 17 (1927), Nr. 12, S. 942-946 u. Jena 700 Jahre Stadt. Jubelfeier und Paradiesfest 20.-28. Juni 1936, Jena 1936, S. 4. [zurück]
[7] Vgl. dagegen Georg Thieme: 1236 – Jenas Ersterwähnung als Stadt, in: Bernd Wilhelmi (Hg.): 750 Jahre Jena = Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe, 34 (1985), H. 5/6, S. 539-546. [zurück]
[8] Matthias Rupp: Zur vor- und frühstädtischen Entwicklung Jenas aus archäologischer Sicht, in: Hans-Jürgen Beier (Hg.): Jena und der Saale-Holzland-Kreis im frühen und hohen Mittelalter, Langenweißbach 2018, S. 81-96. [zurück]
[9] Vgl. Alice von Plato: Stadtjubiläen im Nationalsozialismus. Propaganda von oben oder Konsens von unten?, in: Die alte Stadt. Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Bd. 28 (2001), H. 1, S. 30-38. [zurück]
[10] Zitiert nach „Die Sportstadt Jena“ von 1921, in: Jenaer Beiträge zum Sport. Herausgegeben von Hans-Georg Kremer, H. 19, Jena 2014, S. 7-11. [zurück]
[11] Vgl. die Illustration „Einzelheiten über den Olympia-Zug“, in: Jenaer Volksblatt, 25.6.1936, in: zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00328938/JVB_19360625_146_167758667_B1_009.tif. [Aufruf am 15.10.2023]. [zurück]
[12] Vgl. Rüdiger Stutz: „Das Wunder von Jena“. Zur Deutung des Abbeschen Stiftungswerks in der Zwischenkriegszeit, in: Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln/Weimar/Wien 2007, S. 497-515, hier S. 511-515. [zurück]
[13] Zitiert nach https://www.aktionsnetzwerk.de/index.php/netzwerk/sprechende-vergangenheit/214-jena-vor-70-jahren [Aufruf am 9.10.2023]. [zurück]
[14] 1949-1969. Die Zeiss- und Universitätsstadt JENA im 20. Jahr der DDR. Herausgeber: Rat der Stadt Jena, Jena 1969, S. 4f. [zurück]
[15] Zum zeitgenössischen Begriffsverständnis der SED-Führung vgl. Irene Fischer u. a.: Schlüsseltechnologien: warum und für wen? Parteihochschule „Karl Marx“ beim ZK der SED, Berlin 1987. [zurück]
[16] Vgl. Reinhard Buthmann: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms, Berlin 1997, S. 20-31. [zurück]
[17] Adelheid von Saldern (Hg.): Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935-1975) unter Mitarbeit von Lu Seegers, Stuttgart 2005, Einleitung. [zurück]
[18] BArch, MfS, BV Gera/X/867/82, Bl. 218. [zurück]
[19] BArch, MfS, BV Gera X/1720/80, Bl. 97-99 u. ebd., MfS, BV Gera/X/867/82, Bl. 217-219. [zurück]
[20] Adelheid von Saldern: „Sinfonie der Festtagsstimmungen“. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935-1975), in: Dies. (Hg.): Inszenierter Stolz, Stuttgart 2005, S. 409-460, hier S. 430. [zurück]
[21] Vgl. Gudrun Quenzel (Hg.): Entwicklungsfaktor Kultur. Studien zum kulturellen und ökonomischen Potenzial der europäischen Stadt, Bielefeld 2009, S. 11-21. [zurück]
Der Artikel sollte doch bestimmt eigentlich im Jahr 2022 erscheinen, denn er thematisiert den Tag der Stadtgeschichte im Jahr 2022?!
Sie haben recht: der Blogbeitrag greift das Thema des Tages der Stadtgeschichte „Die Paradiesfeste und Stadtjubiläen in Bildmedien“ von 2022 noch einmal auf. Allerdings handelt es sich nicht um einen einfachen Rückblick, sondern eine profunde Zusammenschau und wissenschaftliche Analyse aller dort gelieferten Beiträge durch unseren Stadthistoriker, Herrn Dr. Rüdiger Stutz. Wir fanden seine Befunde so interessant, dass wir sie nun noch einmal kompakt bringen wollten, auch, um allen denjenenigen Einblick zu gewähren, die damals nicht teilnehmen konnten.
Danke für Ihre Interesse!
Ihr JenaKultur-Blog-Redaktionsteam