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Opfer deutscher Medizinverbrechen
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Opfer deutscher Medizinverbrechen

Der NS-Gesundheitspolitik lag von Anfang an das Kalkül „Heilen und Vernichten“ zugrunde. In Thüringen entsprach dem frühzeitig, die als arbeitsunfähig geltenden Heim- und Anstaltsinsassen von den übrigen Patienten abzusondern.

Der Tuberkulosearzt Franz Heisig forderte für schwere Fälle von Schwindsucht sogar haftähnliche Verwahrmaßnahmen. Am 15.10.1934 wurde eine solche „Krankenhaftabteilung“ den Thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda angegliedert, d. h. einer psychiatrischen Anstalt ohne Tuberkuloseärzte. In ihr sollten unheilbar Geisteskranke und als „antisozial“ oder „asozial“ eingestufte Schwindsüchtige „unschädlich“ gemacht werden. So umschrieb es Alexander Rössler 1936 in seiner Dissertation an der Medizinischen Fakultät Jena.

Da solche Abteilungen zur Zwangsasylierung in der Regel mehrere Jahre vor dem Beginn der zentral organisierten Psychiatrieverbrechen eingerichtet worden waren, kann als sicher gelten, dass schwerkranke Tuberkulosepatienten zu den ersten Opfern der Euthanasiemorde 1940/41 zählten. Dieser reichsweiten Mordaktion fielen mindestens 630 Patienten aus den staatlichen Heilanstalten in Blankenhain, Hildburghausen, Pfaffenrode bei Mühlhausen und Stadtroda zum Opfer. Darunter befanden sich über 60 geistig Behinderte aus Jena, die in der Tötungsanstalt Sonnenstein bei Pirna umgebracht wurden. Die Zahl der Opfer aus den meisten privat und kommunal geführten Heimen in Thüringen, etwa dem Städtischen Versorgungs- und Altersheim in Jena, konnte bislang nicht ermittelt werden.

Seit Mitte der 1930er Jahre wurden die Ernährungskosten in den Heilanstalten Sachsens, Hessen-Kassels und Thüringens drastisch gesenkt. In Folge der Hungerkost erkrankten immer mehr Patienten an Tuberkulose bzw. die Zahl der an Tuberkulose Verstorbenen nahm stark zu. Jena gehörte zum Tuberkulosebezirk Stadtroda, wo die Offentuberkulösen nach Einschätzung der Medizinhistorikerin Christine Wolters systematisch durch unterlassene medizinische Versorgung und Essensentzug ums Leben gebracht wurden.

Nach Kriegsbeginn sei die Tötung durch falsch dosierte Medikamente hinzugekommen. Bis April 1945 verstarben in Stadtroda mindestens 612 Tuberkulosekranke in der Zwangsasylierung, unter ihnen 25 Jugendliche. Im Vergleich zu den letzten Vorkriegsjahren verdoppelte sich die Zahl der verstorbenen erwachsenen Patienten in den Jahren nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Seit dem 1. Juli 1939 leitete Gerhard Kloos die Landesheilanstalt Stadtroda. Unter seinem Direktorat wurde 1942/43 eine neue Abteilung zur Tötung geistig behinderter Kinder eingerichtet, in der bis April 1945 mindestens 103 Kinder im Alter von unter 11 Jahren verstarben. Über die wahren Hintergründe der steigenden Todesrate waren sowohl der Jenaer Ordinarius für Psychiatrie Berthold Kihn als auch spätestens seit 1943 der Direktor der Universitäts-Kinderklinik informiert. Jussuf Ibrahim überwies nachweisbar sieben schwerstgeschädigte Kinder nach Stadtroda, keines von ihnen befand sich im Prozess des Sterbens.

Der Behinderten- und Krankenmord zielte vorrangig auf das Freimachen von Betten für Patienten aus Krankenhäusern und Notlazaretten. Daneben zielte er auf die Einsparung von Nahrungsmitteln und med. Versorgungsgütern, ähnlich wie das latente Hungersterben in den geschlossenen Abteilungen der psychiatrischen Einrichtungen.

Literatur

  • Aly, Götz: Tuberkulose und „Euthanasie“, in: Pfeiffer, Jürgen (Hg.): Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich, Tübingen 1992, S. 131-146, zit. nach: S. 134;
  • Debernitz, Ralf: Entwicklung der Tuberkulosebekämpfung im Stadtkreis Jena und im Landkreis Stadtroda von der Jahrhundertwende bis 1945, MS, med. Diss., Uni Jena 1994;
  • Zimmermann, Susanne: Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 2000, bes. S. 138-156;
  • Ergebnisbericht der Kommission „Kinderklinik Jussuf Ibrahim“ vom 17.4.2000, in: http://www.uni-jena.de/unijenamedia/ibrahim.pdf , 6.2.2016;
  • Renner, Renate: Zur Geschichte der Thüringer Landesheilanstalten / des Thüringer Landeskrankenhauses Stadtroda 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der nationalsozialistischen „Euthanasie“, MS, med. Diss., Uni Jena 2004;
  • Schilling, Willy: Ärzte und das System nationalsozialistischer Euthanasie in Thüringen, in: Beleites, Eggert (Hg.): Menschliche Verantwortung gestern und heute. Beiträge und Reflexionen zum nationalsozialistischen Euthanasie-Geschehen in Thüringen und zur aktuellen Sterbedebatte, Jena 2008, S. 81-135;
  • Wolters, Christine: Tuberkulose und Menschenversuche im Nationalsozialismus: das Netzwerk hinter den Tbc-Experimenten im Konzentrationslager Sachsenhausen, Stuttgart 2011;
  • Böhm, Boris: „Euthanasie“-Anstalt Pirna-Sonnenstein: Die Ermordung Thüringer Patienten in den Jahren 1940/41 und die Erinnerung daran in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte, Bd. 68 (2014), S. 237-262.