Aktuelle Lage in Jena
Nachdem der erste Mai in Jena ruhig verlief, startete der Folgetag etwas turbulenter. Nachts gegen 03:00 Uhr wurde laut Landespolizeiinspektion bekannt, dass unbekannte Personen im Bereich der Innenstadt randaliert hatten
Nachdem der erste Mai in Jena ruhig verlief, startete der Folgetag etwas turbulenter. Nachts gegen 03:00 Uhr wurde laut Landespolizeiinspektion bekannt, dass unbekannte Personen im Bereich der Innenstadt randaliert hatten
Bei Untersuchungen am Tatort stellte sich heraus, dass Fensterscheiben der Deutschen Bank und der Commerzbank im Jenaer Zentrum beschädigt, sowie die Wände und Fenster mit Farbe beschmiert worden waren.
Aufgrund mehrerer Vorkommnisse in den letzten Monaten innerhalb der Jenaer Innenstadt und vor allem aufgrund des lokalpolitischen Umgangs damit, sehen wir uns in der Pflicht, zu reagieren.
Statt eine sachliche Debatte zu fördern, stachen die Reaktionen, besonders konservativer Stadtpolitiker*innen, durch ihr Festhalten an der Ideologie der reinen Symptombekämpfung, heraus. Sicherheitsdezernent Benjamin Koppe (CDU) sprach beispielsweise von "grenzenloser Verachtung" und davon, dass das Maß "übervoll" sei. Er forderte das "Innenministerium und Landeskriminalamt als auch den Verfassungsschutz" dazu auf, "die jüngsten Vorfälle in Jena mit höchster Priorität" zu behandeln. (M6) Entsetzen wegen der deutschen Beteiligung an Kriegen und Waffenexporten gab es nicht. Genauso wenig ist ein solches Handeln und Argumentieren bei Gewalttaten aus Burschenschaftsnähe, wie dem Bewusstlosprügeln eines 21-Jährigen durch ein neonazi-nahes Mitglied der Verbindung "Normannia" aufzufinden. Vielmehr stellt sich die CDU schützend vor Burschenschaften, da diese ein "aus der Mitte unserer Gesellschaft" stammender, "wichtiger Teil unseres vielfältigen Stadt" seien. (M2) Damit bedient sie nicht nur die längst wiederlegte Hufeisentheorie, sonder lässt ungeachtet dass viele Jenaer Burschenschaften Werte wie Sexismus, Klassismus und immer wieder auch Rechtsextremismus fördern. Werte, die ein klares Gegenteil zu dem "Jenaer Stadtprogramm gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Intoleranz" (M8) darstellen. Auch die mehrfachen rassistischen Angriffe aus nahegelegenen Städten sorgten nicht für die nötigen politischen Debatten. Genannt seien hier nur der brutale Angriff von 20 Neonazis auf einen Apoldaer Pfarrer am 15. November letzten Jahres (M4) sowie der jüngste rassistische Übergriff in einer Erfurter Straßenbahn (M3).
In Anbetracht dieser Vorfälle scheint die Prioritätensetzung zwischen menschlicher Gesundheit und Sachbeschädigung eher fragwürdig und voreilig.
Sind kaputte Fensterscheiben und Graffiti tatsächlich das größte Problem Jenas? Was motiviert Bürger*innen dieser Stadt zu derartigen Aktionen?
Die Beweggründe hinter den Aktionen sind im Internet leicht zu recherchieren. Auf "de.indymedia.org" ist das aktuelle Bekenner*innenschreiben nachzulesen. In diesem wird Kritik an der systematischen Ausgrenzung der Kurd*innen in der Türkei geübt, welche dort laut Statement "ihrer Kultur beraubt, inhaftiert und ermordet" werden. Der Bezug des türkischen Faschismus zu Deutschland und Jena wird durch die "Profitgier und inhumane Politik des Westens" hergestellt. Die Banken waren die Zielobjekte aufgrund ihres Investierens "in Krieg, Hunger und Vertreibung auf der ganzen Welt." Es wird in der Sache selbst also eine klare Kritik an menschenverachtenden Handlungen geübt und sich für ein offenes Miteinander eingesetzt. Werte, für die wir als Demokrat*innen stehen sollten. Diese Inhalte sind jedoch nicht mit der Sprache der Texte zu vermischen, welche wir ablehnen.
Die weiteren Schreiben richteten sich gegen die sozioökonomische "Aufwertung" der Jenaer Innenstadt gegenüber anderen Stadtteilen. Diese Attraktivitätssteigerung geht zugunsten derer, die es sich leisten können. Andere soziale Gruppen werden durch die hohen Preise vertrieben. (M9) Die Aktionen richteten sich laut Teilnehmenden generell gegen die neoliberale Stadtpolitik, von der nur wenige - meist ökonomisch Starke - profitieren. Auch diese Problematik benötigt dringend mehr Aufmerksamkeit.
Doch weshalb verschaffen sich die Beteiligten durch Randale und Vandalismus in der Innenstadt Gehör?
Weil alles andere nicht half? Möglicherweise sahen sie keinen anderen Ausweg, sich bemerkbar zu machen? Gut möglich, finden wir. Doch um es genau zu wissen, hätte den Menschen zugehört werden müssen. Ein nun von einigen Stellen geforderter Diskurs (M11) kommt äußerst spät, ist aber dennoch dringend nötig.
Wir wissen dass es schwer ist, auf solche polarisierenden Aktionen mit einem demokratischen, inhaltlichen Diskurs zu antworten. Wir hoffen dennoch, dass Politiker*innen genau dafür die Courage zeigen. Denn das ist ihre Aufgabe. Um eben diesen Diskurs zu führen, ist es dringend notwendig, das eigene Handeln und die eigenen Entscheidungen zu reflektieren. Bei den nun Aufschreienden ist davon allerdings sehr wenig zu sehen. Immer wieder haben Menschen versucht sich zu äußern. Genug Bürger*innen und Gruppen Jenas haben Statements und politische Forderungen zu verschiedenen - und auch den oben genannten - politischen Themen veröffentlicht. Auf ihre Wünsche, Vorschläge und Forderungen scheint jedoch immer wieder nicht eingegangen worden zu sein oder sie wurden nicht ausreichend umgesetzt. Anstatt also, wie Bastian Stein (CDU), auf die kaputten Scheiben vom 13.03.2021 mit der Aussage "Die Täter haben ganz offensichtlich keine Ahnung." (M5) zu reagieren und diesen somit ihr Wissen, ihre Sorgen sowie ihre Probleme abzusprechen, ist es notwendig, das eigentliche Problem bei der Wurzel anzugehen. Auch die Reaktion der FDP, welche auf eine inhaltliche Auseinandersetztung der Grünen Jugend mit der Thematik als Antwort äußert, dass die Grünen in Jena durch ihre Jugendorganisation ein "gewaltiges Problem mit ihrer politischen Stellung zu Gewaltlosigkeit und zum Rechtsstaat" (M12) hätte, sehen wir sehr kritisch. Wir empfinden den Versuch der Grünen Jugend einen offenen Diskurs über die Ursachen der verschiedenen Ereignisse zu beginnen weder als Gefahr für den Rechtstaat, noch als gewaltsam, sondern als dringend notwendig um Problemen in unserer Stadt nachhaltig zu begegnen und vorzubeugen. Mit welcher Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit die Meinungen und Forderungen dieser Jugendlichen abgetan werden ist in unseren Augen ein weiteres Beispiel der Diskursverschlossenheit, die viele Bürger*innen, insbesondere auch junge Menschen, zunehmend kritisieren. Natürlich ist konstruktive Kritik
und Austausch verschiedener Meinungen wichtig für Demokratie und ein Zusammenleben auf Augenhöhe. Die bisher geübte Kritik an der Pressemitteilung, aber auch an den vermehrten Vorkommnissen in der Stadt, war allerdings weder sonderlich konstruktiv noch ausreichend differenziert. Viel mehr wirkte sie auf uns belehrend, abwertend und von oben herab sprechend, was sicherlich nicht zur Lösung des Problems beitragen wird, sondern es eher verschärft.
Anstatt also das Symptom – die Randale – lediglich zu verurteilen und, wie die CDU es tut, mehr Überwachung durch Videokameras zu fordern (M7), sollte damit begonnen werden die Krankheit – also die Ursachen wie Gentrifizierung, eine neoliberal geprägte Stadtpolitik und Diskursverschlossenheit – zu bekämpfen.
Es ist an der Zeit, auf berechtigte Sorgen vieler Bürger*innen und Gruppen zu hören. Besonders jener, die leicht überhört werden. Es ist an der Zeit, demokratische, menschenfreundliche, soziale, klimagerechte, antifaschistische und antirassistische Bewegungen zu stärken. Wir fordern, dass mehr Geld in die Bekämpfung von Rechtsextremismus gesteckt wird. Wir fordern die Unterstützung von Institutionen, welche unser Weltbild erweitern. Wir fordern, dass Kunst und Kultur, sowie Bildungs- und Freizeitangebote gefördert werden, welche unerlässlich für ein offenes Weltverständnis sind. Wir fordern mehr dezentrale Anlaufstellen und sozialen Wohnraum für Geflüchtete und andere Menschen. Gerade in diesen Zeiten. Und wir fordern ein stärkeres Mitspracherecht aller bei politischen Entscheidungen, besonders für Minderheiten und Unterrepräsentierte.
Lassen Sie uns weg kommen von der durchaus wichtigen Debatte über Vandalismus, hin zu einer gesellschaftlichen, inhaltlichen Diskussion über soziale Misstände. Lassen sie uns die Probleme an der Wurzel packen.
M1
https://rechercheportaljenashk.noblogs.org/post/2021/04/05/jenaer-polizei-fahndet-nach-normannia-burschenschafter/
M2
https://www.cdu-jena.de/aktuelles/2019/toleranzverstaendnis-der-spd-opfer-zu-taetern-machen
M3
https://taz.de/Angriff-auf-Syrer-in-Strassenbahn/!5762709/
https://www.sueddeutsche.de/politik/rassismus-thueringen-erfurt-strassenbahn-1.5277929
M4
https://rechercheportaljenashk.noblogs.org/post/2020/11/18/volkstrauertag-apolda-bekannte-neonazis-und-rechtsrocker-attackieren-couragierten-pfarrer/
https://www.zeit.de/news/2020-11/16/staatsschutz-ermittelt-nach-angriff-auf-pfarrer-in-apolda
M5
https://www.coolis.de/2021/03/14/cdu-jena-breite-ablehnung-zu-krawallen-notwendig/
M6
https://www.otz.de/regionen/jena/vandalismus-in-jenaer-innenstadt-bekennerschreiben-wird-geprueft-belohnung-ausgesetzt-id232188585.html
M7
https://www.cdu-jena.de/aktuelles/2021/mairandale-und-videoueberwachung
M8
https://www.kokont-jena.de/jenaer-stadtprogramm/
M9
"Verdrängung in Jena: Wer sich die Miete nicht leisten kann, muss gehen"
https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/ost-thueringen/jena/hohe-mieten-verdraengen-menschen-aus-stadt-100.html
M11
https://www.cdu-jena.de/aktuelles/2021/gruene-jugend
M12
https://www.otz.de/regionen/jena/jena-gruene-jugend-ist-ueber-vandalismus-reaktion-empoert-id232236141.html