Jena und die Revolution(en) von 1989
Das Ende der Blockkonfrontation 1989/90 leitet den Übergang zu einer neuen Weltordnung ein. Der Zäsurcharakter des Herbstes 1989 zeigt sich in der DDR in der „sich überschlagenden Wucht und Beschleunigung des historischen Ereignisstroms, der in Monate, Tage, manchmal Stunden zusammenballte, was vordem auf Jahrzehnte unverrückbar festgefügt schien“, wie es der Zeithistoriker Martin Sabrow formuliert.
Die Vielschichtigkeit dieses Bruchs greift ein breites Angebot von veranstaltungen auf, das kirchliche, kulturelle, zivilgesellschaftliche und universitäre Initiativen in diesem Herbst gemeinsam in Jena anbieten: „89//19: Wegbruch – Umbruch – Aufbruch. Jena und die Revolution(en) von 1989“.
Der Wegbruch vermeintlich unveränderlicher, festgefügter Strukturen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stand neben Um- und Aufbrüchen an Schulen, in Betrieben und Behörden. Im Aufbruch befand sich 1989 auch die Gesellschaft der DDR: Viele Menschen stimmten mit den Füßen ab durch Ausreise und Flucht in den Westen. Andere fanden den Mut, ihre Unzufriedenheit öffentlich zu artikulieren, bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 eine „Nein“-Stimme gegen den Wahlvorschlag der Nationalen Front abzugeben, an Kundgebungen und Demonstrationen gegen das SED-Regime teilzunehmen, sich den neu entstehenden Bürgerbewegungen und Parteien anzuschließen, Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Einhaltung grundlegender demokratischer Rechte einzufordern.
Im Vordergrund des Veranstaltungsprogramms stehen vor allem die lokalen Ereignisse in Jena. Der Tag der Stadtgeschichte beleuchtet am 26. Oktober unter dem Motto „Jena `89: Eine Stadt im Ausnahmezustand“ die Auswirkungen der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Krise auf die Stadt Jena und fragt in Gesprächen mit Zeitzeug*innen u. a. danach, wie am Arbeitsplatz mit dem Verlust von ausgereisten oder geflüchteten KollegInnen umgegangen wurde. Nicht nur die Entstehung lokaler Ableger der Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratischer Aufbruch und Demokratie Jetzt und die Massenproteste in Jena werden thematisiert, sondern auch die Vorbereitungen der lokalen Sicherheitsorgane auf eine mögliche Niederschlagung der Proteste.
Auch die Rolle der Kirchen für die Entwicklung der Friedlichen Revolution in Jena bildet einen Themenschwerpunkt. So kommen in einem vom Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Jena organisierten Zeitzeugenforum am 17. Oktober (ehemalige) PfarrerInnen zu Wort, die sich für „Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung“ einsetzten und damit die Ziele der Ökumenischen Versammlung von 1988/89 in die Reformforderungen der Bürgerbewegten und Demonstrierenden einbrachten. Die Ökumenische Versammlung und ihre Impulse für die Friedliche Revolution stehen auch im Fokus einer „performativen Zeitreise“, zu der die Freie Bühne e. V. am 25. Oktober einlädt. Interaktiv können sich die Gäste am Jahrestag der ersten Herbstdemonstration in Jena in das Jahr 1989 zurückversetzen lassen.
Individuelle Weg-, Um- und Aufbrüche, die aus den Transformationen von 1989/90 für die Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR resultierten, sollen ebenfalls Teil der Diskussionen sein. Bis heute wirken sich die tiefgreifenden politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen besonders auf die Bevölkerung in den neuen Bundesländern aus. Eine Parität der Löhne in den alten und neuen Ländern ist noch nicht erreicht. Vor allem in Ostdeutschland sind viele unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie: nur knapp über 35 Prozent der Befragten gaben in einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung an, damit zufrieden zu sein. Die Autorin Jana Hensel und der Soziologe Wolfgang Engler führen dies besonders darauf zurück, dass die Lebensleistung vieler Ostdeutscher nach der „Wende“ nicht genügend Würdigung erfuhr und ein Diskurs über Alltagserfahrungen in der DDR im wiedervereinigten Deutschland keinen Raum fand.
Zwei Gespräche thematisieren die Frage nach den Folgen der weitreichenden Veränderungen, nach der Erfüllung von Hoffnungen, aber auch dem Verfehlen von Zielvorstellungen der Friedlichen Revolution: Am 20. November im Kino im Schillerhof unter dem Motto „30 Jahre Friedliche Revolution! Kein öffentliches Interesse?“ und am 18. Dezember im Paradiescafé, u. a. mit dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Thierse: „Freiheit als Herausforderung: 30 Jahre Friedliche Revolution“.
Im Programmtitel ist von „Revolution(en)“ im Plural die Rede. Nicht in allen Staaten des Ostblocks verlief der Zusammenbruch des Kommunismus friedlich. Das Programm greift die Umbrüche in Rumänien heraus, wo Teile des Ceauşescu-Regimes die Proteste im Dezember 1989 gewaltsam zu unterdrücken versuchten. Studierende der Volkskunde und der Rumänistik der Uni Jena haben auf Grundlage einer Forschungsreise nach Rumänien und in die Ukraine eine Ausstellung konzipiert, die sich u. a. mit der Rezeption der Ereignisse von 1989 durch die dort lebenden deutschsprachigen Minderheiten befasst. Die Ausstellung „Wir wohnen Wort an Wort“ war vom 8. April bis 10. Mai im Unihauptgebäude zu sehen und wird dort im Januar 2020 noch einmal gezeigt.
Erinnern Sie sich an den Herbst ’89?