I.VI Kulturell engagierter Stadtbürger
An der Universität in Jena sind Rechtsgeschichte, Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungs- und Sozialrecht seine Spezialgebiete, doch sein geistiger Horizont ist weiter gespannt – ein Leben lang interessieren ihn Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst. Seine Frau, Clara Rosenthal, und er sind mit namhaften Künstlern, wie Stefan George, Harry Graf Kessler, Hugo von Hofmannsthal, Henry van de Velde und Ludwig von Hofmann bekannt. Auch gehören schon seit frühester Jugend Bücher und Bilder zum Leben Eduard Rosenthals. Noch wertvoller erscheinen sie ihm, wenn er sie mit anderen Menschen teilen kann. Mit gleich gesinnten Frauen und Männern gründet er daher 1896 den Lesehallen- und 1903 den Jenaer Kunstverein.
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Engagement für die Lesehalle
Gründung des Kunstvereins
Initiative für das Ernst-Abbe-Denkmal
↓Frauen und Männer, Arbeiter und Wissenschaftler, Lehrlinge und Studenten können hier Bücher, Zeitschriften und Zeitungen frei nach ihren Interessen auswählen. Im Statut des Lesehallenvereins ist festgeschrieben, dass bei der Anschaffung des Lesestoffs strikte Neutralität gegenüber allen politischen Parteien, wissenschaftlichen Auffassungen und religiösen Bekenntnissen gewahrt werden muss. Die Jenaer Lesehalle entwickelt sich so in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg zu einem Ort, in dem Toleranz erlernt und sozialer Frieden praktiziert werden kann und gilt zu dieser Zeit als eine der modernsten Lesehallen in ganz Europa.
Siegfried Czapski an Arthur Heidenhain, 25.04.1897 Als Text lesen
Siegfried Czapski an Arthur Heidenhain, 25.04.1897
Jena, den 25. April 1897
Lieber Freund,
Meiner gestrigen, in äusserster Hast geschriebenen Karte möchte ich nur noch ein paar Worte nachsenden. […] Die Frage der Bibliothekarswahl beschäftigte uns, wie ich Dir wohl schon sagte, gerade in den letzten zwei Wochen sehr; sie ist für uns ganz brennend. Der Posten ist als durchaus selbständiger gedacht, sowohl was die Leitung der literarischen als der äußeren Verhältnisse der Lesehalle betrifft. Die etwaigen Vortheile und Schwierigkeiten im Einzelnen werden wir Dir hier noch erzählen. […] Leider ist Professor Rosenthal gerade noch verreist; er muss aber in den nächsten Tagen wiederkommen, schon des Semesters wegen. Mit ihm hättest Du zunächst natürlich zusammen zu arbeiten und würdest äußerlich aus gewissen Gründen anfangs bloß als sein Stellvertreter fungieren (wie während seiner Abwesenheit ein hiesiger junger Nationalökonom). Rosenthal ist eine so durch und durch feine liebenswürdige und selbstlose Natur, dass Dir dieses Zusammenwirken mit ihm gewiss nur Vergnügen machen wird. Mit Rosenthal muss ich aber dieses Project natürlich in erster Linie besprechen und das wird, einer ihm schriftlich zugesandten Bitte zu Folge sogleich nach seiner Rückkehr, also gewiss in den nächsten Tagen geschehen. Dann wird die Zustimmung Abbe’s bezw. des Stiftungscommissars zur Creirung und Dotierung dieses Postens einzuholen sein. Abbe hat noch nicht gesagt, wann er zurückkehren wird (er ist seit 4 Wochen in eine wissenschaftliche Arbeit verbohrt und ist für uns so lange wie tot); da er aber am 6. schon in Berlin sein muss, so wird er jedenfalls Ende, spätestens Anfang nächster Woche heimkehren. Endlich muss pro forma der Vorstand der Lesehalle seine Zustimmung geben. Das wird er, wenn ihm von der Stiftung die Mittel bewilligt werden und Rosenthal und ich Dich vorschlagen, ohne weiteres tun. Das würde am besten in der, nächsten Sonntag abzuhaltenden regulären Monats-, sonst aber in irgendeiner ad hoc berufenen Sitzung geschehen. Die anderen Vorstandsmitglieder – höchstens mit Ausnahme des hiesigen Nationalökonomen Prof. Pierstorff – sind nämlich nicht viel mehr als Statisten, und Pierstorff kam vorige Woche selber zu mir und hielt mir eine Predigt über die Dringlichkeit, Monarchie herbeizuführen. Wenn Du Dich dann auf Grund des Augenscheins im Princip für Annahme der Stelle entschlossen hast, siedelst Du hierher über und versuchst, wie es geht. Bindend ist das für Dich dann immer noch nicht. Erst später müssten wir einen Vertrag machen. […] Die Kinder und nicht minder Grete freuen sich schon sehr darauf, Onkel Arthur wiederzusehen. Für Hans bildest Du sogar beinahe eine Concurrenz zu dem sehnlich erwarteten Foxterrier. Du wohnst bei uns, wie Dir der eben scheidende Gast bestätigen kann, ganz ungenirt.
Also komm, wenn Du magst, auf solange Du kannst zu Deinen Dich mit Freuden erwartenden alten FreundenSiegfried und Grete Czapski
Eduard Rosenthal an Ernst Haeckel, 22.10.1896 Als Text lesen
Eduard Rosenthal an Ernst Haeckel, 22.10.1896
Jena, den 22.X.1896
Hochverehrter Herr Kollege,
Als Bettler komme ich heute zu Ihnen. Unsere „öffentliche Bibliothek“, deren Leitung ich übernommen habe, soll am 1. November eröffnet werden. Brauche ich mehr zu sagen? Sie werden wohl auch ohne Röntgen-Durchleuchtung meines Inneren den innigen Wunsch und die Bitte erraten, einige Werke von Ihnen geschenkt zu erhalten. Die Bibliothek ist ja nicht nur für Arbeiter, sondern auch für Gebildete bestimmt und da dürfen unserer berühmten Kollegen Werke nicht fehlen. Hoffentlich verzeihen Sie meine Unverschämtheit, aber für Andere darf man wohl unverschämt sein. Ich verspreche Ihnen, wenn einmal Ihre Werke zum Autodafé seitens eines Kultuschefs eingefordert werden, sie mit oberbibliothekarischem Schilde bis zum Äußersten zu verteidigen.
Mit herzlichen Grüßen verehrungsvoll Ihr Eduard Rosenthal
Ansprache zur Einweihung der Lesehalle von E. Rosenthal, 20.09.1902 Als Text lesen
Ansprache zur Einweihung der Lesehalle von E. Rosenthal, 20.09.1902
Das Verhältnis, das zwischen der Carl Zeißstiftung und dem Lesehallenverein besteht, ist nicht so leicht zu definieren. Man könnte vielleicht an eine Ehe denken. Und dann ist der erste Gedanke der an eine Geldheirat. Aber eine solche ist es nicht, auch keine Vernunftehe. Es ist eine wirkliche Liebesheirat. Wir haben stets nur Liebe und Güte in jeder Richtung erfahren, daß wir gar nicht anders können, als heute voll warmen Dankes unserer gegenseitigen Beziehungen zu gedenken. Es ist ein stolzes Gefühl für jeden Jenenser, das dieses schöne und prächtige Bauwerk in ihm erwecken muß. Es gehört nicht einem einzelnen Berufe oder einer einzelnen Klasse, sondern dem ganzen Volke – in dem Sinne, in dem Bismarck einmal sagte: „Zum Volke gehören wir alle.“ Und so glaube ich, ist bei der Errichtung dieses Baues nicht nur das Interesse der Lesehalle, sondern auch der ganzen Stadt von der Carl Zeißstiftung gefördert worden. Denn unser Jena dürfte heute das schönste und vornehmste Lesehallengebäude auf dem Kontinente besitzen. […] Sodann war n o c h eine große Schwierigkeit bei der Gründung der modernen Lesehallen zu überwinden. Auch unser Vaterland ist zerklüftet in Parteien. Man hatte Angst davor, alle Parteien, auch die sozialdemokratische, als gleichberechtigt zu behandeln. Das Prinzip unseres Statuts: „Bei Auswahl des anzuschaffenden und Annahme des angebotenen Lesestoffs ist strenge Neutralität gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Parteien einzuhalten“, erringt sich immer mehr Anerkennung. Wie im Auslande, haben sich auch Leiter und Beamte der bedeutendsten deutschen Bibliotheken zu diesem Grundsatze der tendenzlosen Auswahl der Literatur bekannt. Nicht die Tendenz, nicht der konfessionelle oder politische Parteistandpunkt, sondern nur der literarische Wert eines Schriftwerks darf bei der Aufnahme maßgebend sein. Warum sind hier die unbedingte rücksichtslose Freiheit und die Abwendung jeder Bevormundung notwendig? Weil jeder Druck Gegendruck erzeugt. In dem Augenblick, in dem man einzelne Parteien ausschließt, werden diese geradezu gezwungen, sich eine eigene parteipolitische Lesehalle zu schaffen. Wir aber wollen den Boden der gemeinsamen Kultur, auf dem wir alle stehen, nicht verlassen. Wir wünschen, daß Einer nicht durch die Parteibrille die vielgestaltigen Erscheinungen des Kulturlebens betrachtet. Sein eigenes Parteiblatt hat er zuhause. Wird ihm nun in der Lesehalle die Gelegenheit geboten, auch in das Organ einer gegnerischen Partei einen Blick zu werfen, tut er das und stellt eine objektive Prüfung an, so wird er sich sagen: Mein Gott! So töricht ist das eigentlich auch nicht, was der Gegner sagt. Man wird Kritik üben, man wird sich wohl nicht leicht belehren lassen, aber man wird eine andere Meinung freier, unbefangener zu würdigen lernen. Man wird einsehen, daß es schließlich gar nicht möglich ist, alle Fragen vom einseitigen Parteistandpunkte aus zu beurteilen. So notwendig die Parteien, so notwendig der Kampf der Parteien um Geltung im Staate ist, Eines dürfen wir nicht vergessen, daß über den Parteien steht das Vaterland und die menschliche Gesittung. So wird die Lesehalle auch in diesem Sinne ein Mittel für die Förderung des sozialen Friedens sein. Wie wir in unserm Vorstand, der zusammengesetzt ist aus Angehörigen der verschiedensten Schichten und Parteien der Stadt, uns im Dienst einer guten Sache zusammenfinden in harmonischer Wirksamkeit, wie in unseren Verhandlungen nur sachliche Gesichtspunkte vorherrschen, so wird, wie ich sicherlich hoffe, der Kreis der Aufgaben, die Alle unterschiedslos zu gemeinsamer Mitarbeit vereinigen, ein immer größerer werden. Man ist nicht nur Parteimensch, sondern Mensch. Dieses reine Menschentum immer mehr zur Entwicklung zu bringen, muß als höchstes Ziel winken.
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