Fotografien
18. März 2023 – 11. Juni 2023
In den Jahren 2010 und 2011 durchquerte Charles Fréger Europa. Von Nord nach Süd, von Finnland bis Portugal, über Rumänien, Deutschland und Slowenien war er auf der Suche nach der Figur des Wilden Mannes, wie sie in lokalen Volkstraditionen noch heute lebendig ist.
Diese archetypischen Charaktere – halb Mensch, halb Tier, Tier oder Pflanze – tauchen anlässlich ritueller, heidnischer oder religiöser Feste aus den Tiefen der Zeit wieder auf und feiern den Kreislauf der Jahreszeiten, Fastnacht, Karneval oder Karfreitag. In den einstigen Volksstämmen der europäischen Landbevölkerung stellten diese Mischwesen Schutzfiguren oder Fruchtbarkeitssymbole dar, die den Schrecken der kalten Jahreszeit ein Ende setzen sollten. Heute beschwören sie eine imaginäre, triebhafte und physische Welt herauf. Sie lassen sich als vielfältige Inkarnationen unserer ursprünglichen Beziehung zur Natur lesen, auf deren Oberfläche das Tierische zum Vorschein kommt. Wenn der Wilde Mann in Legenden durch unbewohnte Wald- und Berggebiete vagabundiert, verkörpert er die archaische Seite einer als unzähmbar geltenden Natur. Charles Fréger spricht von „einer zoomorphen Figur, deren grobe Erscheinung und rituelle Kleidung auf universelle Nacktheit verweisen.“
Die Bekleidung offenbart kein Quäntchen Haut, die menschliche Gestalt ist vollständig unter einer Flut aus schwerem Pelz, Wolle, Glocken, Hörnern sowie anderen Materialien und Accessoires begraben. Selbst die Gesichter der Verkleideten bleiben hinter masken oder schwarzer Schminke verborgen, was den kreatürlichen Charakter noch verstärkt. Oft erinnern sie an Bären, Wölfe oder Hirsche, aber auch andere, fremdartige Wesen, Strohmänner oder Teufel. Fréger inszeniert diese Charaktere stets in einer natürlichen, oft weitläufigen Umgebung. Dabei nimmt er seine Fotografien auch außerhalb von Fest- und Karnevalszeiten auf und gönnt sich gewisse formelle Freiheiten gegenüber seinen Protagonisten. So lässt er bewusst bestimmte Dinge weg oder zeigt sie von hinten. Er tritt seinen Motiven wissentlich voreingenommen gegenüber, da er keinen wissenschaftlichen, sondern einen poetischen Ansatz verfolgt.
Seit Beginn seines künstlerischen Schaffens waren es primär spezifische Bekleidungsformen, die den französischen Fotografen am Bild des Menschen interessierten. Die Krampusläufe im Ostalpenraum lösten schließlich eine solche Faszination aus, dass er sich fortan extensiv den traditionsbeladenen Kostümierungen und Maskeraden verschiedener Kulturkreise widmete. Unerschöpflich betreibt er fotografische Bestandsaufnahmen, Kartografien von Bräuchen, wie sie den Takt ländlichen Lebens vorgeben. Eine Spurensuche, die ihn um den gesamten Globus, zuletzt nach Indien brachte.
Die Serie des Wilden Mannes, auf die sich die Ausstellung konzentriert, bildet dabei ein unabgeschlossenes Hauptwerk, zu dem sich, dank neuer Entdeckungen, gelegentlich weitere Figuren gesellen. Immer wieder tauchen Geschichten auf, die für die von Fréger erforschten Regionen spezifisch sind und von denen die Maskeraden das theatralische Echo beschwören.
1975 in Bourges geboren, gehört Fréger zur Spitze der jüngeren europäischen Fotografie, stellt international aus und hat großen Erfolg mit seinen Publikationen, die sich teils mehrfacher Neuauflagen erfreuen.
Für die freundliche Förderung des Ausstellungsprojektes danken wir der Kulturstiftung des Freistaates Thüringen.