Eine Einführung in das Thema von Dr. Axel Doßmann vom Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der FSU Jena.
"Von Feinden zu Freunden" – der Titel des Programms markiert etwas, das nach zwei Weltkriegen alles andere als selbstverständlich war und ist.
Freundschaftliche Beziehungen zwischen einst verfeindeten Nationalstaaten sind angewiesen auf konkrete Begegnung, auf Austausch über Sprachgrenzen hinweg – erst dann ist es gelebte Erfahrung und kann Hoffnung auf solidarisches Miteinander begründen. Das als "Erinnerungsmosaik" bezeichnete Wochenende will europäische Stimmen und Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit zur Geltung bringen. Statt die relevant bleibenden Unterschiede in den nationalen Erfahrungen und Sichtweisen als ein "europäisches Gedächtnis" zu harmonisieren, wird in Jena erst einmal auf Zuhören und Verstehen-Wollen gesetzt. Was als das "Eigene" und was als das "Fremde" in Europa wahrgenommen wird – das muss im Miteinander erkannt und benannt werden, bevor es wechselseitig begriffen und auf fried- und lustvolle Weise angeeignet werden kann.
Dass Erinnerung stets dem Guten diene und Frieden stiften will, das war und ist ein Irrglaube. Im Gegenteil, soziales Sich-Erinnern und historisches Gedenken verfolgt meist auch politische Strategien, will selten den historischen Tatsachen gerecht werden, gestaltet oft eher Mythos denn historische Wahrheit, sucht rasch Legitimation statt Gerechtigkeit. Kaum waren die Soldaten 1914 in den Krieg gezogen, entstand an der "Heimatfront" in Jena das "Kriegsarchiv der Universitätsbibliothek", damit ein propagandistisch nützliches Bild vom Krieg in der Welt bleibe.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Sammlung zur großen Teilen zerstört worden. In anderen Archiven lässt sich herausfinden, wie die Firma Carl Zeiss mit neuen Zielgeräten half, dass die Bomben der deutschen Zeppelin-Luftschiffe über London und Südengland ihre Ziele nicht verfehlten. Der Feind sollte vernichtet werden, die eigenen Soldaten wurden zum Opfer fürs Vaterland ermutigt. Am Totensonntag 1915 schlugen hunderte Bürgerinnen und Bürger aus Jena eiserne Nägel in ein hölzernes, zwei Meter großes Kreuz. Dieses "Eiserne Kreuz" hing dann als Symbol an der Stadtkirche, Zeichen für innige Verbundenheit der "Heimatfront" mit den Soldaten, gefeiert unter den Gesängen "Deutschland, Deutschland über alles". Aus Feldpostbriefen nach Thüringen wissen wir: Für den einen Soldaten war ein Eisernes Kreuz ein stolz getragener Beweis, "dass ich kein Schlappschwanz" bin. Einem Rekruten aus Weimar hingegen war seine Gesundheit "lieber als alle milit[ärischen] Auszeichnungen". "Begeisterung, vaterländische oder sonstige Gedanken, von denen so viel geschrieben wird, leben bei uns draußen nicht mehr, die liegen lange auf den ersten Schlachtfeldern begraben", schrieb 1916 ein Sanitätsoffizier nach der Schlacht von Verdun an einen Feldprediger in Jena.
Nach 1918 versuchten viele Akteure, dem Gemetzel im Krieg nachträglich nationalen Sinn abzutrotzen. Der Ton machte die Musik auch bei der Grundsteinlegung für ein Denkmal auf dem Jenaer Landgrafen. Vom "Schmachfrieden von Versailles" sprach 1920 der Oberbürgermeister Theodor Fuchs und pries ein Jahr darauf "Unsere Helden" zwischen Eisernen Kreuzen, Eichenlaub und Stahlhelm.
Politischer Totenkult unterdrückte viele Stimmen gegen Krieg und Militarismus. Wozu Denkmäler? SPD und KPD plädierten in den frühen 1920er Jahren für eine Unterstützung der Kriegskrüppel, Witwen und Waisenkinder statt neue "Steinhaufen" wie die "Krieger-Gedächtnisstätte" für alle Jenaer Gefallenen, die sich der Oberbürgermeister Alexander Elsner wünschte. Ein Spendenaufruf an die Bevölkerung scheiterte kläglich, Carl Zeiss Jena spendete 25.000 Mark, damit der vermeintliche Beweis für patriotische Grundstimmung doch gebaut werden konnte. Am Totensonntag 1929 wurde das „Ehrenmal“ auf dem Hainberg mit vielen Krieger- und Militärvereinen eingeweiht. Tief versenkt im Hohlraum des Opfertisches in der Mitte des Mauerrings liegt noch heute eine Liste mit den Namen der 1459 gefallenen Jenaer Bürger, "verwachsen mit der Heimaterde, für deren Freiheit die Gefallenen ihr Leben liessen". (Elsner) Die "urgermanische Festungsanlage" (KPD) nutzten ab 1933 vor allem die "Deutschen Christen" für ihre Feiern zum nationalsozialistischen Heldengedenktag.
Nach dem Sieg der Alliierten über die Armeen des "Dritten Reiches" wandelte sich der Blick auf die "Helden" der Weltkriege erneut. Auf Beschluss der Stadt Jena steht seit 1950 auf dem Altarstein die Inschrift: "DIE TOTEN DER KRIEGE MAHNEN ZUM FRIEDEN". Erstmals waren nicht allein "unsere", die deutschen Kriegstoten angesprochen. Aus den ehrenvoll für die Nation "Gefallenen" wurden nüchtern "Tote" und Opfer von Kriegen. Im Tod sind alle Toten gleich, aber waren sie es im Leben? Was lässt sich historisch begreifen mit einer Mahnung, die Leid universalisiert, die nach Gründen von Kriegen nicht mehr fragt und nicht verrät, welche Art von Frieden gemeint ist? Wie haben Frauen und Männer aus der Ukraine, aus Frankreich und England oder die Rekruten aus den europäischen Kolonien die Weltkriege wahrgenommen? Wie wird Politik in Europa mit Bezug auf die jeweiligen nationalen Kriegserfahrungen heute begründet?
"Ewig lebt der Toten Tatenruhm" stand auf einer Kranzschleife, die zum Totensonntag 2014 vor dem Denkmal abgelegt worden war: Ein völkischer Spruch aus dem Repertoire deutscher Antidemokraten. Im Internet bekannten sich Thüringer Neonazis stolz zu ihrer Heldengedenkfeier. Der Kranz blieb drei Wochen vor dem Jenaer Opferstein liegen.
Die Nutzung öffentlicher Räume erzählt viel über die Gesellschaft, die sie geschaffen hat und mit Leben erfüllt. Die Theaterperformance mit Akteuren aus Czernowitz, Aubervilliers und Jena und die vielen anderen veranstaltungen können auch als zivilgesellschaftliche Antworten verstanden werden – als Reaktionen auf Nationalisten, Rechte und Gleichgültige im historischen Europa und im Europa unserer Gegenwart.
Axel Doßmann