Jena ist die wichtigste Schiller-Stadt Deutschlands
Goethe und Schiller, Hölderlin oder Fichte, Schelling und Hegel – das sind nur einige der großen Dichter und Denker, die in Jena gelebt und gewirkt haben. Dr. Helmut Hühn, Leiter von Schillers Gartenhaus und der Goethe Gedenkstätte in Jena, kennt diese Lichtgestalten und die Stadt genau. Im Interview wirft er einen Blick zurück auf das „närrische Nest“, das Jena um 1800 war, und erklärt, warum diese Zeit für die Gegenwart so bedeutend ist.
Sie kommen direkt von einer Führung durch Schillers Gartenhaus. Was ist das Schönste daran, anderen Menschen dieses historische Gebäude zu zeigen?
Ich habe gerade Gäste aus Usbekistan durchs Haus geführt. Es ist toll, an einem Ort zu sein, den Menschen von überall her besuchen. Das bedeutet nämlich, dass diese Schiller-Goethe-Tradition auch 200 Jahre, nachdem die Leute hier gelebt haben, immer noch so wichtig ist, dass Gäste deswegen aus aller Welt hierherkommen.
In Jena tummelten sich um 1800 Denker aller Art.
Wie muss man sich das Geschehen damals vorstellen?
Jena war zu der Zeit ein kleines, närrisches Nest. Die Stadt hatte damals ungefähr 5.000 Einwohner und lag in einer landschaftlich besonders reizvollen Gegend. Die Universität bekommt durch junge, interessante Talente europäische Bedeutung. Ohne sie hätte es nie so eine kulturelle Blüte geben können. Das „Ereignis“ um 1800 ist nicht nur ein literarisches, sondern auch ein philosophisches. Hier sind große Werke der Philosophie entstanden. Das Besondere ist die Kopräsenz verschiedener Strömungen: Wir haben hier Spätaufklärung, Frühkantianismus, Frühromantik und Frühidealismus – die Vertreter dieser Strömungen sind alle in Jena und diskutieren miteinander.
Und im Zentrum dieser Bewegungen stehen Schiller und Goethe. Eine ganz besondere Bedeutung kommt dieser Zeit zu, da in ihr die moderne Kultur entsteht. Die Welt, in der wir heute leben, wurde hier vor 200 Jahren wesentlich mitgeprägt. Hier entsteht ein Bewusstsein, das um seine eigene Geschichtlichkeit und um die Kulturalität menschlichen Denkens, Hervorbringens und Wertens weiß.
Wie kommt es, dass Jena um 1800 überhaupt zu so einem „Hotspot“ geworden ist?
Das personelle Geflecht um Schiller und Goethe hatte eine ungeheure Strahlkraft. Das sind Autoren, die Großes geleistet haben. Der Freiheits-Aspekt spielte auch eine zentrale Rolle: Dass unter den nach Jena gezogenen jungen Denkern besonders viele Schwaben waren, hatte mit den politischen Bedingungen zu tun. Schelling, Fichte, Hegel und Hölderlin sind im Stift in Tübingen gut ausgebildet worden, aber die politischen Zustände dort waren weniger freiheitlich als in Jena. Je mehr von diesen jungen Intellektuellen hierher kamen, desto größer wurde die Attraktion. Das führte auch dazu, dass sich Verleger in Jena niederließen, wie beispielsweise Frommann. Das ist ein Steigerungsphänom.
1806 fiel Napoleon in Jena ein – welche Bedeutung hatte dieses Ereignis?
Die Schlacht von Jena und Auerstedt war ungeheuer blutig – Homer hätte gesagt eine „männermordende Schlacht“. Diese Art von Zerstörung hatte weitreichende Auswirkungen und sorgte in den Einrichtungen der Universität – etwa im Botanischen Garten – für Verwüstungen. Es war ein Ereignis tiefer kultureller und politischer Verunsicherung. Man musste wieder ganz neue Kräfte entwickeln. Hegel hat in dieser Zeit seine „Phänomenologie des Geistes“ geschrieben – ein Megawerk der Philosophie. Er sieht Napoleon durch die Stadt reiten und spricht vom „Weltgeist zu Pferde“. Mit der Schlacht von Jena und Auerstedt kommt die Weltgeschichte nach Jena und setzt hier eine politische wie kulturelle Zäsur.
Sie sind auch Leiter der Goethe-Gedenkstätte. Goethe wird oft eher Weimar zugeordnet. Welche Verbindung hatte er zu Jena?
Goethe hat natürlich viel länger in Weimar gewohnt. Doch rechnet man alle seine Aufenthalte in Jena zusammen, kommt man insgesamt auf mehr als fünf Jahre. Goethe hat sich hier intensiv um die Universität gekümmert und insbesondere die Strukturen der Naturforschung wesentlich geprägt. Er hatte selbst ein sehr großes Interesse an Naturforschung und beschäftigte sich eingehend mit Botanik, Anatomie und Mineralogie. Goethe hat dafür gesorgt, dass die einzelnen Institute und ihre Sammlungen erweitert wurden. Das ist eine Leistung, die gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. Für Goethe hatte Jena aber auch die Funktion der Rekreation. In Weimar hatte er einen Ministerposten, in Jena konnte er sich erholen und mit Gesprächspartnern diskutieren. Jena ist auch ein sehr wichtiger Schreibort Goethes. Er lebte in einer kleinen Kammer im Stadtschloss und notierte auf einem Fensterrahmen alle Werke, die er in diesem Zimmer geschrieben hat.
In Schillers Gartenhaus gingen die Großen seiner Zeit ein und aus.
Wie darf man sich so ein intellektuelles Treffen vorstellen?
Schiller ist in dieses Gartenhaus gezogen, um der Enge der Stadt zu entfliehen. Eigentlich will er hier in Ruhe arbeiten, doch ist er seit Mitte der 90er-Jahre schon so bekannt, dass viele Leute vorbeikommen und schauen wollen, wie denn der berühmte Dichter so lebt. Der engere Zirkel, den Schiller selbst hierher einlädt, besteht aus Goethe und den Schwabenfreunden, mit denen er eine Art „Philosophenclub“ bildete. Das war übrigens keine reine Männerrunde – Frauen waren auch involviert. Diese Leute gingen bei Schiller ein und aus. Die anderen Gäste wurden draußen in der Laube empfangen, in der Hoffnung, dass sie nicht lange blieben, damit er weiterarbeiten konnte.
Wo begibt man sich in Jena am besten auf Schillers und Goethes Spuren?
In Schillers Gartenhaus – und das sage ich nicht nur, weil ich Vertreter dieser Sehenswürdigkeit bin. Es repräsentiert die Freundschaftskultur, die Briefkultur, die Gesprächskultur und die universitäre Kultur, die damals um 1800 entstanden ist. Das Haus wurde kaum verändert, es gibt noch die originalen Dielen, über die schon Schiller und seine Besucher gelaufen sind.
Das Gartenhaus ist ein einmaliges Zeugnis der Jenaischen Kultur um 1800. Jena hat Schiller in der Wahrnehmung ein wenig an Weimar abgegeben, obwohl er 10 Jahre hier gelebt hat. Das ist die längste Zeit, die er überhaupt in einer Stadt verbracht hat. Es geht aber natürlich nicht nur um die Verweildauer, sondern das Werk, das in diesen 10 Jahren entstanden ist: Das ist umwerfend. Jena ist die wichtigste Schiller-Stadt Deutschlands.
Jena trägt den Beinamen „Lichtstadt“. An Optik und Carl zeiss denkt man da schnell – was für Assoziationen haben Sie als Geisteswissenschaftler und Historiker mit dem Begriff?
Wenn Sie vor dem Schillerhaus stehen, ist rechterhand der Anbau zu sehen, den Ernst Abbe, der kongeniale Partner von zeiss, errichten ließ. Abbe hat acht Jahre im Haus gewohnt – hier fanden die ersten wichtigen Gespräche mit dem Glaschemiker Otto Schott statt. Sie stehen also vor der großen Geschichte der Universität. In diesem Hause verbinden sich die beiden großen Traditionen der Universität: die philosophisch-künstlerische um 1800 und die naturwissenschaftlich-technologische, die eng mit der Etablierung der optischen Industrie in Jena zusammenhängt.