Gedenken an die Bombardierung Jenas mit Gästen aus Coventry
Zum Gedenken an die Opfer der Bombardierungen Jenas im 2. Weltkrieg hielt Oberbürgermeister Thomas Nitzsche eine Rede:
Sehr geehrter, Dear Very Reverend John Witcombe, Dean of Coventry,
sehr geehrter Herr Schuegraf, Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V.,
sehr geehrter, lieber Herr Neuß,
sehr geehrter, lieber Herr Dr. Elsner,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter seitens der Kirche,
liebe Vertreterinnen und Vertreter der Stadtpolitik,
liebe Bürgerinnen und Bürger,
heute sind wir in größerer Zahl hier zusammengekommen als in den letzten Jahren und ich freue mich, so viele Vertreterinnen und Vertreter seitens der Kirche heute hier begrüßen zu dürfen.
Der eine oder andere hat es vielleicht bereits der Tagespresse entnommen: Die Jenaer Stadtkirche St. Michael wird heute im Anschluss an unser Gedenken im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes in die internationale Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry aufgenommen. Der Aufnahme möchte ich an dieser Stelle in keiner Weise vorgreifen und stattdessen Sie alle herzliche einladen, heute auch dem Gottesdienst um 15.00 Uhr beizuwohnen.
Ich freue mich jedenfalls sehr, dass Sie, sehr verehrter Very Reverend John Witcombe und Sie, sehr verehrter Herr Schuegraf heute auch unserem Gedenken an die Bombardierung Jenas beiwohnen. Es ist uns ein Ehre, Sie heute bei uns zu wissen. Ihre Anwesenheit ist eine ausgestreckte Hand für Versöhnung und Frieden. Danke, dass Sie gekommen sind!
Gräuel des Krieges
Die letzte und schwerste Bombardierung Jenas passierte heute vor 78 Jahren. Unter uns sind kaum noch Menschen, die sich an dieses schreckliche Ereignis erinnern. Doch der Krieg in der Ukraine mit seinen Berichten über Zerstörungen und Bombardierungen, den Bildern von getöteten Soldaten und Zivilisten hat die Gefahr eines Kriegs uns wieder sehr ins Bewusstsein befördert. Der Frieden, in dem wir glücklicherweise nun seit Jahrzehnten leben durften, ist nicht selbstverständlich.
Die Gräuel des Krieges sind erschütternd und ein Ende ist derzeit nicht absehbar. Doch wir wissen, dass auch dieser Krieg enden wird. Wirklichen Frieden wird es jedoch nur geben können, wenn es auch Versöhnung gibt. Dafür lassen Sie uns eintreten, wo wir es können.
Der Angriffskrieg auf die Ukraine lässt die niedergeschriebenen Erinnerungen an die Bombardierungen Jenas wieder wach werden, weshalb wir heute hier zusammen gekommen sind. Die Bilder aus den heutigen Nachrichten lassen uns nachfühlen, was in Jena geschah:
Bereits im Mai 1943 kam es zu einem ersten Bombardement auf Jena, das 12 Tote forderte. Schnellbomber der Royal Air Force attackierten im Tiefflug die Zeiss- und Schottwerke. Die Angreifer kamen nicht zufällig. Seit 1934 wurde Carl Zeiss Jena in der Exilliteratur als ein Hauptproduzent militäroptischer Geräte genannt, so dass Jenas Bedeutung für die Auf- und Ausrüstung der Wehrmacht im westlichen Ausland frühzeitig bekannt war.
Im Frühjahr 1945 griffen die Bomberpulks Jena in der Regel als Zweitziel an. Sie befanden sich bereits auf dem Rückflug und hatten zuvor den größten Teil ihrer Bombenlast über den mitteldeutschen und schlesischen Hydrieranlagen abgeworfen.
Krieg ging auch von Jena aus
Am 19. März 1945 kam es zum schwersten Bombenangriff des ganzen Krieges. Es wurde berichtet, dass an diesem Tag um 12.20 Uhr die Sirenen schon zum dritten Mal heulten und Fliegeralarm gaben. 13.16 Uhr erreichten 197 Flugzeuge der 3. Luftdivision der 8. US Army Air Force den Raum der Stadt Jena.
In sieben Wellen galt ihr Angriff erneut dem Hauptwerk des Unternehmens Carl Zeiss am Rande der Altstadt. Doch nur sechs bis acht Bomben trafen dieses Ziel, sechs das nahe gelegene Jenaer Glaswerk Schott & Genossen. Die Masse der Spreng-, Phosphor- und Brandbomben ging über dem etwa 250 Meter davon entfernten Areal zwischen Fürstengraben und Holzmarkt nieder.
Mehrere hundert Quadratmeter dicht bebauter Wohn- und Geschäftsquartiere lagen innerhalb von 20 Minuten in Schutt und Asche. Sieben Großbrände entstanden in der Innenstadt, die im Verlauf des Nachmittags auch auf Turm, Dach und Halle der Stadtkirche St. Michael übergriffen. 220 Häuser vornehmlich in der Innenstadt wurden vollständig zerstört. Allein diesem Angriff fielen 236 Menschen zum Opfer, 100 wurden schwer und 150 weitere leicht verletzt.
In der Meldung des Örtlichen Luftschutzdienstes schilderte ein Feuerwehrmann die Bergung von Bombenopfern aus einem Luftschutzkeller in der Leutrastraße. Während das Gebäude noch in Flammen stand, bargen die Rettungskräfte 29 Tote und eine Frau, die noch lebte und bis zu den Armen verschüttet worden war. Nur unter der Mithilfe zweier Soldaten gelang es, die Person aus dem Trümmerschutt zu befreien.
Bericht einer Augenzeugin
Im Jahr 1994 berichtete Susanne Z. in der Ostthüringer Zeitung über den Bombenangriff. Sie war damals 27 Jahre alt:
„Wir wohnten damals in der Frauengasse. Als wir mittags von der Arbeit nach Hause kamen, konnten wir es nicht fassen. Das Haus, in dem wir wohnten, die Nr. 21 und die drei gegenüber stehenden Häuser lagen in Schutt und Asche. Wir standen vor einem großen Trümmerhaufen. Wir waren so verwirrt und fingen an, mit den bloßen Händen zu buddeln, an der Stelle vor der Notausstieg sein musste. Im Keller waren sieben Personen, darunter auch meine Mutter.
Es kam aber ein Gruppe von Soldaten, denen es gelang, den Notausstieg mit Schaufeln freizulegen. Leider konnten alle Personen bis auf eine Frau, die schwer verletzt war, nur noch tot geborgen werden. Auch meine Mutter, sie war 53 Jahr alt.
Wir saßen stundenlang am Trümmerhaufen. Dann meldeten wir uns als Bombengeschädigte. Wir bekamen eine Liste mit Adressen im Westviertel, die ein Haus für sich allein besaßen und genug Platz hatten. Aber niemand wollte uns haben.“
Beim letzten Bombenangriff am 9. April 1945, drei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in Jena, zerstörte die US-Air-Force den Güterbahnhof des Saalbahnhofs, um den Eisenbahnverkehr lahmzulegen. Die Bomben schlugen zwischen Spitzweidenweg und Löbstedter Straße eine breite Schneise der Verwüstung. Unter den Opfern dieses Angriffs befanden sich auch Zwangsarbeiter des Reichsbahnausbesserungswerks. Wie die deutschen Anwohner hatten sie in einem Fußgängertunnel Schutz gesucht, der durch einen Bombentreffer zerstört wurde. Über 100 Menschen starben.
Zwischen 1940 und 1945 ertönte in Jena 330 Mal das Signal „Fliegeralarm“. Insgesamt starben bei Bombenangriffen mehr als 800 Menschen. 1.166 Verletzte wurden registriert. Die Toten und Verletzten machten ca. 3 Prozent der damals in Jena lebenden 79.000 Einwohner und Flüchtlinge aus. In Folge der Bombardierung waren im Stadtgebiet 17 Prozent der Häuser und Wohnungen so stark beschädigt, dass sie unbewohnbar waren. Insgesamt 2.763 Wohngebäude mit 9.720 Wohnungen wurden beschädigt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Krieg ist nicht nur Teil unserer Geschichte, er ist leider auch Teil unserer Gegenwart. Seien wir dankbar, dass wir heute hier in Frieden leben dürfen, seien wir solidarisch mit den Menschen, die vor Krieg fliehen müssen. Lassen Sie uns für Frieden eintreten und nach Wegen suchen, ihn zu erreichen – wohl wissend, dass die Herangehensweisen auch zum Krieg in der Ukraine sehr verschieden sind. Doch das Ziel sollte uns einen, einen gemeinsamen Weg zu finden.
Lassen Sie uns denken an die Menschen, die von 1943 bis 1945 hier in Jena Opfer des Bombenkrieges wurden, des Krieges, der von Deutschland ausgegangen und nun mit seiner ganzen Brutalität zurückgekehrt war.
Lassen Sie uns nach Versöhnung streben und einander die Hand reichen.