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Am 9. September 2000, einem Samstag, wird der 38-jährige Blumenhändler Enver Şimşek blutüberströmt in seinem Mercedes-Lieferwagen in einer Parkbucht in Nürnberg aufgefunden. Zwei unbekannte Täter, so urteilten die polizeilichen Ermittler später, haben ihn neben seinem mobilen Blumenverkaufsstand mit acht Schüssen "regelrecht hingerichtet". Enver Şimşek verstirbt zwei Tage später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die Schüsse, die ihn töteten, stammen aus einer Pistole des Typs Ceska 83, Kaliber 7,65. Noch ahnt niemand, dass mit derselben Waffe in den folgenden Jahren acht weitere Geschäftsleute mit türkischen und griechischen Wurzeln ermordet werden. Enver Şimşek ist das erste Opfer einer beispiellosen Mordserie, die in den Medien bald danach irreführend als "Dönermorde" bezeichnet wird.
Eingangs seiner Rede erwies der Jenaer Oberbürgermeister, Dr. Thomas Nitzsche, allen Opfern der Mordserie seinen Respekt, indem er sie namentlich aufrief.
Er bat bei allen Hinterbliebenen um Entschuldigung für das Versagen der Behörden in Jena wie im Land Thüringen, aber auch für das Versagen der gesamten Gesellschaft. An die Familie Şimşek gewandt, dankte der Oberbürgermeister Adile Şimşek, Semiya Şimşek, Demirtas mit Yigit Can, Melike Şimşek und Abdulkerim Şimşek, dass sie nach Jena gekommen waren, um an der Weihung des Platzes teilzunehmen.
Dr. Thomas Nitzsche versicherte in seiner Rede, mit der Benennung des Platzes sei die Aufarbeitung dieses Versagens nicht abgeschlossen. Vielmehr müssten wir in Jena weiterhin an die Opfer erinnern, die Versäumnisse und Verantwortung der Stadt aufarbeiten und dafür Sorge tragen, dass so etwas nicht noch einmal geschehen könne.
Darüber hinaus erinnerte der Oberbürgermeister an die Worte von Semiya Şimşek auf dem Berliner Gendarmenmarkt im Februar 2012. Auf der Trauerfeier für ihren ermordeten Vater Enver sprach seine Tochter von der zweiten Traumatisierung, die ihrer Familie widerfahren sei. Sie durften nach dem Mord nicht Opfer sein, sondern wurden zu Verdächtigen gemacht. Vor diesem Hintergrund müssten der Familie die unzureichenden Versuche der juristischen und politischen Aufarbeitung der letzten Jahre mittlerweile wie eine dritte Traumatisierung erscheinen, beklagte Herr Nitzsche.
Ferner begrüßte der Oberbürgermeister die geladenen Gäste, die in großer Zahl erschienen waren, unter ihnen der Ministerpräsident des Landes Thüringen. Einige von ihnen hielten kurze Ansprachen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übermittelte ein Grußwort, das den Anwesenden verlesen wurde.
Nach der Umbennenung des Enver-Şimşek-Platzes folgte – einem Wunsch aus der Bürger:innenschaft folgend – mit dem Fahrplanwechsel am 15.12.2021 auch die angrenzende Haltestelle, bislang "Damaschkeplatz". Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche, ehem. JenaKultur-Werkleiter Jonas Zipf und Marcus Komann vom Ortsteilrat Jena-Winzerla dankten dem Jenaer nahverkehr bei der Einweihung für die Umsetzung des Plans, der mit einigen logistischen Herausforderungen verbunden war.
Für Jonas Zipf stellt die Umbenennung einen weiteren Schritt in der erforderlichen kontinuierlichen Aufarbeitung und Gedenkkultur dar: "2021 haben wir uns ausgehend von Jena um die bundesweite Sichtbarmachung der Belange der Opferangehörigen des NSU-Komplexes bemüht. So sichtbar und erfolgreich das Projekt geworden ist, so klar und deutlich bleibt auch die Erkenntnis, dass nach dem Projekt gilt, was vor dem Projekt galt: Der Titel Kein Schlussstrich! lautet unser Auftrag. Dafür steht nun auch die Benennung der Straßenbahnhaltestelle am gleichnamigen Enver-Şimşek-Platz."
Abdulkerim Şimşek war wenige Tage zuvor 13 Jahre alt geworden, als am 9. September die Täter des "Nationalsozialistischen Untergrundes" seinen Vater aus nächster Nähe niederschossen.
2014 veröffentlichte der Herder Verlag eine Aufsatzsammlung unter dem Titel "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet". Herausgeberin war Barbara John, seit 2012 Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde.
Der Verlag veröffentlichte darin auch den Bericht von Abdulkerim Şimşek: "Ohne meine Religion wäre ich in Hass versunken". Abdulkerim Şimşek, Sohn Enver Şimşeks, erzählt.
Im Text versucht sich Abdulkerim Şimşek an seinen Vater zu erinnern, und zwar "als Kind" zur Tatzeit, an die Folgen des rassistischen Mordanschlags für seine Familie, an sein Verhältnis zu Deutschland, wo er im Unterschied zu seinem Vater geboren wurde, also an sein Heimatland, das er nicht verlassen möchte, an seinen Glauben als Muslim und seine Forderungen an die deutschen Ermittlungsbehörden.
Wir danken für die freundliche Genehmigung des Herder Verlags, den Bericht von Abdulkerim Şimşek online veröffentlichen zu können.
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